Die wahre Katastrophe ist, mit Walter Benjamin gesprochen, dass alles weitergeht wie zuvor. Durch die äußerst kurzlebige öffentliche Aufmerksamkeit werden gerade jene nachhaltigen Lernprozesse unmöglich gemacht, auf die es bei sozialen Veränderungen ankäme. Zu diesem Mangel gehört auch, wie viele Hinweise und Warnungen ohne Echo bleiben – bis es zu spät ist. Aufgeschreckt durch den Massenmord in Winnenden sollten wir vielleicht einen nüchternen Blick zurück auf einen Artikel werfen, den bereits 1997 der US-Psychiater Itzhak Fried in der wohl bekanntesten medizinischen Fachzeitschrift, The Lancet, veröffentlicht hat.
Frieds Artikel, damals in der Rubrik „Hypothesen“ abgedruckt, ist zwei Jahre vor dem berüchtigten, durch zwei Schüler verübten Massaker in Littleton/Colorado (20. April 1999) geschrieben worden. Die jugendlichen Täter kamen vom Bowling, als sie, schwer bewaffnet, in der Columbine-High-School zwölf Menschen töteten. Seither hat es in den USA, aber eben auch in Deutschland, mehrere solcher Mordtaten gegeben, für die Fried 1997 quasi vorab ein psychopathologisches Szenario entwarf.
Charakteristisch für dieses „Syndrom“ sind in Frieds Augen die wiederholten Gewaltakte: „Die Täter engagieren sich in der stereotypen Wiederholung aggressiver Akte, charakterisiert durch den Zwang, möglichst keines der Opfer zu schonen.“ Fried sieht diese Verhaltensweise kombiniert mit Zwangsideen (zum Beispiel obsessiven Vorurteilen gegen Minderheiten), verminderter Fähigkeit zu Mitleid und Empathie bei Übererregung (für die er das deutsche Wort „Rausch“ verwendet) – und all das bei vollkommen intaktem Sprachvermögen, Gedächtnis und Fähigkeit zur Problembewältigung.
Mord im Scheinwerferlicht
Fried dachte 1997 vor allem an den Massenmord an den Armeniern 1915/16, an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, an die „killing fields“ von Kambodscha und den Völkermord in Ruanda; die Vielzahl von Einzeltätern, die seit 1997 praktiziert haben, was man in den USA heute rampage killing, „Mord im Scheinwerferlicht“ nennt, waren ihm noch nicht bekannt. Dennoch wirkt es heute doppelt bedrückend, wenn er die „wichtigsten Risikofaktoren“ für das von ihm als „Syndrom E“ bezeichnete gewalttätige Verhalten beim Namen nennt: Männliches Geschlecht, Alter zwischen 15 und 50 Jahren – Faktoren, die eben nicht nur auf Kriegsschauplätzen, sondern auch in den sogenannten Friedenszeiten einer Zivilgesellschaft eine bedeutsame Rolle spielen, wie sich von Littleton bis Winnenden, fast genau zehn Jahre später, bewahrheitet hat.
Für die von Fried genannten hirnphysiologischen Befunde, besonders für die Unterbrechung „normaler“ Kommunikation zwischen Mandelkern (Amygdala) und Großhirnrinde bei den kühl planenden Gewalttätern, liegen heute eine Fülle ergänzender Befunde vor; sie stützen Frieds Vermutung, dass es sich bei derartigen Gewalttaten eben nicht um die Realisierung ungebremster Impulse aus „primitiven“ Hirnregionen handelt. Dies schon deshalb, weil – so betonte auch Fried 1997 – derartigen Manifestationen längere Lernprozesse vorausgehen, in denen sich das Verhältnis des Täters zu seinen späteren Opfern heranbildet – eben jenes Verhältnis, das von mitleidloser Effektivität gekennzeichnet ist.
Erschreckend sind, jedenfalls für mich, die abschließenden Sätze, die Fried unter dem Stichwort „Prävention“ formuliert hat: „In fast allen Gesellschaften wissen die Menschen, dass eine Kombination von hohem Fieber und Husten auf eine Lungenentzündung verweist. In ganz ähnlicher Weise sollte allgemein beherzigt werden, dass eine obsessive Ideologie, Übererregbarkeit, verminderte gefühlshafte Ansprechbarkeit und eine gruppenabhängige Gewaltbereitschaft, die sich meist gegen Minderheiten richtet, ein ‚Syndrom E‘ ankündigen können.“
Beschämung und Erniedrigung
So weit Itzhak Fried 1997. Zwölf Jahre später liegen etliche Erkenntnisse vor, wie jene dem Gewaltexzess vorausgehenden Lernprozesse des Täters besser erfasst werden können. Unstrittig scheint zu sein, dass dabei Beschämung und Erniedrigung eine zentrale Rolle spielen. Das von dem zum Abitur nicht zugelassenen, von der Schule verwiesenen Robert Steinhäuser 2002 – am Tag der Abiturprüfung! – verübte Massaker hat der Psychoanalytiker Martin Altmeyer unter dem Stichwort „Heldenplatz“ sehr subtil als grandiose Selbstinszenierung beschrieben: „Eine phantastische Installation mit ihm selbst im Zentrum, eine soziale Plastik der narzisstischen Art: Ich, Robert S., kehre an den Ort meiner unerträglichen Schande zurück und verwandle ihn zum Heldenplatz – und die ganze Welt schaut zu!“
Es wird dem deutschen Schulwesen nachgesagt, dass in ihm eine stärkere Auslese waltet als in den meisten europäischen Ländern. Dass in Deutschland – Platz 2 nach den USA! – auch besonders viele Fälle von rampage killing zu verzeichnen sind, dürfte wohl kaum ein Zufall sein.
Till Bastian ist Arzt an einer Fachklinik in Oberschwaben und hat neben etlichen anderen Fachbüchern mehrere Aufsätze zum Thema Scham und Ressentiment veröffentlicht
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