Max Sand ist Schienenersatzverkehr-Enthusiast und Fotograf, Sebastian „El Hotzo“ Hotz selbsterklärter Internetclown und Schreiber. Sie beide eint eine innige Liebe für deutsche Eigenarten und den merkwürdigen Urlaubsort Willingen (Upland), den sie in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig besucht haben. Jetzt veröffentlichen die Freunde ein Buch über ihre Reisen: Paris, London, Mailand, Willingen. Ein Gespräch in der Bierstube Mister X vor Ort.
der Freitag: Herr Hotz, Herr Sand, warum ist Willingen ein „Hotspot deutscher Befindlichkeit“?
Max Sand: Hier trifft sich Sauf- und Familientourismus an einem schönen deutschen Ort. Das ist ein enormer Zwiespalt, aber auch eine glückliche Fusion.
Sebastian Hotz: Willingen ist e
t ein enormer Zwiespalt, aber auch eine glückliche Fusion. Sebastian Hotz: Willingen ist eine Art Sehnsuchtsort. Hier leben nur wenige, aber viele kommen her. Den Wohnort sucht man sich nicht immer freiwillig aus. Wenn man einen Hotspot deutscher Befindlichkeit finden möchte, muss es einer sein, an den Menschen freiwillig kommen.Warum kommen Tourist:innen hierher?Sand: Um die Vereinskasse vom Fußball wegzusaufen. Hier herrscht sogar ein striktes Uniformierungsverbot, das heißt: keine Mannschaftstrikots. Das ist seit drei Jahren so. Es gab zu viele Schlägereien.Und was für Menschen wohnen hier?Sand: Den Ur-Willinger gibt es kaum mehr, dank des Tourismus. An meinem ersten Tag in Willingen habe ich an der Tür einer Kneipe geklopft. Als aufgemacht wurde, hieß es: „Komm rein, ich bin gerade aufgewacht.“ Der Mann erzählte mir, er habe eine Angestellte, die täglich von Dortmund nach Willingen pendelt. Weil sie hier keine Wohnung findet. Hier gibt es nur Fremdenzimmer und Omas, die Fremden nicht vertrauen. Dem Besitzer des Tierparks gehört auch das Curioseum in Usseln und das größte Hotel.Was ist der Willingen-Soundtrack?Sand: Seit Neuestem die Biermelodie von Killermichel. Aber auch Heart of Glass von Blondie.Hotz: Bei mir: Hubschraubereinsatz von DJ Düse. HUB! HUB!Placeholder infobox-2Wie macht man ein Buch über einen Ort wie diesen, ohne Dorftrottel-Klischees zu bedienen?Hotz: Wir sind selbst Dorftrottel, die in ein anderes Habitat gesetzt wurden. Durch irgendwelche Albträume von Abitur und der großen weiten Welt. Fernab von allen Nutztier-Witzen liegt uns das Dorfdasein tief in der DNA. Wo ich herkomme, leben 120 Menschen. Sand: Als Wochenendtourist, der zum Feiern hier ist, wird man schnell vom Städter zum absoluten Dorftrottel. Ich versuche, altbekannte Bilder zu vermeiden. Zum Beispiel: die ausgelassene Stimmung in einer der Hütten oder die Kotze auf dem Bürgersteig am nächsten Morgen. Ich konzentriere mich auf die kleinen Eigenarten hier vor Ort, die nicht sofort ins Auge springen. Hotz: Die Motive, die Max wählt, finden sich zuhauf in jeder großen Stadt. Man sieht sie bloß nicht, weil überall irgendwelche Touri-Fotomotive sind. Die Deutschlandflaggen an Balkonen, die Gartenzwerge in den Auslagen und all die weirden Mitbringsel, die nie jemand kaufen wird. Die finden sich in Berlin, Hamburg, in Paris, London, Mailand und in Willingen.Die deutsche Popkultur legt immer mehr den Fokus auf postmigrantische Lebensrealitäten. Wie sieht Deutschland 2021 in Willingen aus?Hotz: Das Gegenteil dessen. Das ist nicht postmigrantisch, das ist sozusagen prämigrantisch. Das Deutschland, das konservative Kräfte immer und immer wieder heraufbeschwören, existiert hier in einer Art Freilichtmuseum. Vater, Mutter, Kind, die einen Nachnamen tragen, der so häufig ist, dass man ihn niemals buchstabieren muss, dazu Bierdunst in der Luft, Schnitzel auf dem Teller, Genderverbot. Dieses Deutschland existiert, es existiert hier, aber es ist nur eine Kulisse, nur vorgegaukelt – ein rechter Wunschtraum, der nur auf dem Rücken der hier Arbeitenden aufrechterhalten werden kann. Es ist eigentlich keine Sensation, wenn zwei weiße Männer ihrer Faszination für Après-Ski frönen. Ich glaube, der Reiz des Buchs und auch mein Reiz an Willingen ist, dass wir diese Welt und die damit nur allzu oft verbundenen Werte verachten und trotzdem durch unsere Sozialisation und auch die Besuche hier Teil davon sind. Ist es gefährlich, das Dörfliche zu romantisieren? Hotz: Ich glaube nicht, dass wir Willingen romantisieren. Wenn ich an Max’ Fotografie denke, denke ich an eine Deutschlandfahne in einem Schaufenster. Ich glaube, das ist ein gutes Bild. Hier stellt sich Deutschland selbst aus. Würden wir romantisieren wollen, würden wir Bilder von glücklichen, lachenden Familien in Willinger Biergärten machen.Sand: Blonde Mädchen mit Zöpfen und Texte über Seen, Wiesen und die Weizenfelder.Hotz: Und dann wären wir geile Werbetexter für die CDU.2020 fand der hessische Landesparteitag der CDU im Willinger Stern Hotel statt. Hotz: Willingen ist die CDU als Ort. Es gibt Diversität, aber ausschließlich kulinarisch: ein Grieche, ein Italiener, ein Inder. Aber deren Funktion ist einzig und allein die Erbringung einer Dienstleistung. Die leben nicht mal hier im Ort. Hier gibt’s keine Integration, keine Inklusion, eine bloße Service-Gesellschaft. So stellen sich Konservative ein perfektes Deutschland vor: Es gibt Menschen, die nicht weiß, deutsch und christlich sind, aber ihre Daseinsberechtigung hängt von der Leistungsbereitschaft ab. Willingen ist ein Abbild dessen.Warum ist Willingen das Gegenteil von Mailand?Hotz: Weil Willingen sich darüber zu definieren scheint, nicht weltgewandt zu sein. Nach Willingen kommt man nicht, um die weite Welt zu erleben, sondern, um Willingen zu erleben. Hier sucht man die Nähe, vielleicht eine Heimat. Hier kommt sicher niemand mit Fernweh her. Sand: Willingen denkt größer, als es ist.Hotz: Die Tragik Willingens ergibt sich daraus, dass es will, dass Menschen herkommen. Herr Sand, was interessiert Sie, wenn Sie durch den Sucher Ihrer Kamera blicken?Sand: Ich bin Jäger und Sammler zugleich. Ich halte Ausschau nach alltäglichen Dingen, beispielsweise Vorgärten, komisch gewachsenen Bäumen oder eben Kritzeleien an Bushaltestellen. Ich nehme mir sehr selten ein bestimmtes Motiv oder Sujet vor, sondern knipse mal hier, mal da und am Ende des Tages ist dann doch brauchbares Material oder eine kleine Serie entstanden. Ohne am Morgen zu wissen, wo ich heute aus dem Zug oder Bus steige und was es da gibt. Hotz: Ich glaube, niemand hat das Erleben meiner Umwelt so geprägt wie Max. Ich sehe andere Dinge, seitdem ich mit ihm unterwegs bin. Trotzdem findet Max selbst 20 Meter von meinem Stammsupermarkt eine Wurststatue, die mir nie aufgefallen ist. Max kennt keine Scheuklappen.Die Texte Ihres Buches strotzen vor Unsicherheit. Sind das Beobachtungen oder Selbstbeobachtungen?Hotz: Darin steckt die Angst vorm nächsten Morgen. Ich habe dauernd Angst. Nicht vor Willingen, ich bin gerne hier. Ich habe Angst davor, mit meiner eigenen kleinen Familie eines Tages nach Willingen zu fahren und mich danach zu sehnen, irgendwo anders zu sein. Das ist ein banger Blick in die Zukunft.Würden Sie lieber für den Rest Ihres Lebens zerrissene Jeans tragen oder nach Willingen ziehen?Hotz: Hierherziehen. Sorry, aber das Problem mit zerrissenen Jeans ist: Man bleibt beim Anziehen mit den Fußzehen in den Rissen hängen. Mir ist das mal in der H&M-Umkleide passiert. Als ich eine Jeans anprobieren wollte, ist sie einfach gerissen, vom Oberschenkel bis zum Knöchel. Sand: Deswegen bin ich vorhin noch mal ganz schnell von der Uni nach Hause gefahren, um die Hose zu wechseln. Hotz: Willingen hingegen ist für mich in erster Linie ein gemeinsames Erlebnis zwischen Max und mir. Diese Freundschaft schätze ich über alle Maßen.Placeholder infobox-1