Digitale Erlösungsphantasie

IM KINO Der Cyberpunk-Film »Matrix« der Brüder Wachowski verbindet auf atemberaubende Weise Action und visuelle Abstraktion

In einem Interview hat der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka einmal folgende Beobachtung über die abstrakte Malerei der Nachkriegszeit geschildert: »Dieselben Leute (die tagsüber abstrakt malen - Anm.) sind am Abend ins Kino gegangen und haben sich den Humphrey Bogart oder die Rita Hayworth angeschaut. Ich habe dann gefragt, ob du dir zwei Stunden lang zwei Quadrate anschauen willst. Nein, im Kino geht es ohne Menschen überhaupt nicht.« Unabhängig davon, was Hrdlicka damit über das Wesen der Kunst sagen wollte - was das Kino betrifft, hat er sich langfristig geirrt. Heute sehen sich die Leute sehr wohl vollkommen abstrakte, synthetische Filme an. Jüngstes Beispiel: das Science-Fiction-Spektakel Matrix des amerikanischen Bruderpaars Larry und Andy Wachowski, den die Regisseure einen »intellektuellen Actionfilm« nennen. Einen was? Bei Matrix muß man zwar nicht zwei Stunden lang zwei Quadrate ansehen, aber fast jede einzelne Einstellung in dem bildgewaltigen Opus macht einem bewußt, das sie ganz oder teilweise am Computer generiert wurde. Im Gegensatz zu allen anderen Filmen, die in den letzten Jahren mit digitalen Spezialeffekten gearbeitet haben, benutzen die Matrix-Macher den Computer nicht, um wirkliche Landschaften, Dinosaurierer oder Schiffsunglücke so lebensecht wie möglich zu simulieren. Nein, bei Matrix geht es tatsächlich um die spezifischen Eigenschaften dessen, was mit dem Computer möglich ist: um den genuinen Look des Digitalen.

Angefangen mit dem Vorspann, der einen Systemabsturz im Grün der Prä-Windows-Periode simuliert, über atemberaubende Kampfszenen, die aussehen, als wären sie mit der Nintendo-Konsole inszeniert, bis hin zu unglaublichen, M.C.Escher-artigen Räumen, die so nur mit dem Computer »gebaut« werden können. Das ist kein Zufall: in Matrix geht es um Computer und um virtuelle Realitäten. Keanu Reeves spielt in dem Cyberpunk-Film den Programmierer Neo, der erfahren muß, daß seine Welt nur eine komplexe Computersimulation ist - die Matrix, die dem Film den Titel gibt. Eine kleine Gruppe von Computerhackern unter der Leitung des mysteriösen Morpheus (Lawrence Fishburne) versucht, die Menschheit aus dieser Illusion zu reißen. Sie halten Neo für den Weltenretter, der sie aus der Knechtschaft befreien kann. »Unfortunately, no one can be told what the Matrix is. You have to see it for yourself«, sagt Morpheus im Film - ein Spruch, den man praktischerweise gleich zu einem treffenden Werbeslogan umwidmen konnte.

Oberflächlich betrachtet, ist Matrix eine Erlösungsgeschichte mit religiösen Untertönen - Keanu Reeves als Heiliger, der durch Selbstüberwindung zum Retter der geknechteten Menschheit wird. Doch tatsächlich scheint es den Machern des Films darum gegangen zu sein, die Weltsicht des französischen Medienphilosophen Jean Baudrillard zu einem Film zu verarbeiten. Dessen Buch Simulation und Simulakrum ist im Film in einer Nahaufnahme zu sehen. Nach Baudrillard leben wir bereits in einer »Simulationsgesellschaft«, die durch die totale Medialisierung des Alltags den Wirklichkeitsbezug verloren hat und in einem Universum von referenzlos gewordenen Bildern existiert. (Daß man Baudrillards Theorie so verfilmen kann, daß sie wie eine religiöse Erlösungsgeschichte aussieht, wirft natürlich auch Fragen, über seine Theorie auf: Vielleicht handelt es sich dabei in Wirklichkeit auch um eine religiöse Angelegenheit?) Ob Baudrillard mit der »Verfilmung« seiner philosophischen Überzeugungen einverstanden wäre, sei dahingestellt. Viel wichtiger ist Matrix aus einem anderen Grund: zum ersten Mal gelingt es einem Kinofilm, die Gestalt des Hackers zu einer so mystischen Kino-Figur zu machen, wie einst den Cowboy, den Detektiv oder den Killer. Matrix hat der Informationsgesellschaft ihre erste Kino-Ikone gegeben, und sie mit opulenten Bildkompositionen umgeben. Larry und Andy Wachowski, die Brüder, die Matrix geschrieben und gedreht haben, erschlagen ihr Publikum geradezu mit raffiniert gestalteten, tiefen Bildern. Matrix ist eine postmoderne Melange, die in fast jeder Einstellung Zitate und Referenzen versteckt. Blade Runner, Terminator, Brazil, Batman sind nur einige der jüngeren Filme, an die Matrix erinnert und die er zum Teil an visueller Pracht weit übertrifft.

Schon nach den ersten zehn Minuten sitzt der Zuschauer nur noch mit halbgeöffnetem Mund im Parkett. Die Kampfszenen in Matrix sind pures Kino, bei denen die Gesetze von Schwerkraft und Logik mit so großer Selbstverständlichkeit und Raffinesse ausgehebelt werden, daß man gar nicht auf die Idee kommt, sich zu wundern. Die Helden hechten Wände hinauf und hinab, weichen Maschinengewehrsalven aus wie ein paar lästigen Fliegen und halten Kugeln durch ein Fingerschnippen mitten im Flug auf - der kritische Verstand ist bei diesen Bildern schon lange suspendiert, sie haben eine so tiefe, traumhafte Logik, daß man sie glaubt, ohne über sie nachzudenken.

Aber die Wachowski-Brüder kennen auch Filmklassiker wie Jean Cocteaus Orphee, aus dem sie ebenfalls zitieren. Auch vor gelegentlichen Anspielungen auf Nietzsche oder den Taoismus schrecken sie nicht zurück. Es gelingt ihnen jedoch, aus diesen disparaten Elementen einen Film zusammenzufügen, der gleichzeitig unterhaltsam und intellektuell herausfordernd ist. Bloß die flachen Dialoge, die in der sagenhaft schlechten deutschen Synchronfassung zum Teil ins unfreiwillig Komische abdriften, fallen in diesem Zusammenhang gelegentlich unangenehm auf.

Kaum zu glauben, daß die beiden Regisseure vor Matrix lediglich den Lesben-Film-Noir Bound inszeniert und ein Drehbuch für einen mittelprächtigen Silvester-Stallone-Film geschrieben haben. »Little else is known about them«, heißt es geheimnisvoll auf der Website des Films über die Brüder, die schon jetzt mit den Coen Brothers verglichen werden. Für seinen atemberaubenden Mise-en-scene hat Matrix verhältnismäßig wenig Geld gekostet: 60 Millionen Dollar. Das liegt zum Teil daran, daß der Film in Australien gedreht wurde, aber in erster Linie am Einsatz avancierter Computertechnik.

Besonders die Flow Mo-Technik, mit der die meisten Action-Szenen eine schwebend-traumhafte Qualität bekommen, hat man bisher nur in einigen Musik-Videos und in einer Szene in Vincent Gallos Buffalo 66 gesehen. In Matrix dient diese Technik nicht nur dazu, die Kampfszenen ins vollkommen Surreale zu steigern. Vor allem überhöht sie das bißchen Wirklichkeit, das in den Bildkompositionen übriggeblieben ist, vollends ins Abstrakt-Synthetische. Die Protagonisten von Matrix sind zwar Schauspieler aus Fleisch und Blut. Doch für die Inszenierung sind sie letztlich nur abstrakte Signifikanten, aus denen Filmbilder konstruiert werden. Im Grunde könnten statt Keanu Reeves und Lawrence Fishburne auch Alfred Hrdlickas zwei Quadrate, die Hauptrollen spielen. Da diese aber schwerlich so coole Sonnenbrillen und Ledermäntel wie die Protagonisten aus Fleisch und Blut tragen könnten, spricht im Augenblick doch noch mehr für wirkliche Menschen als Darsteller vor den virtuellen »Kulissen«. Matrix ist ein Film, nach dem jeder andere Actionfilm plötzlich unglaublich alt aussieht. Man wird ihn immer wieder sehen wollen.

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