Manches blinkt

Bildstörung Unser Autor ist farbenblind. Solch ein Defekt auf der Netzhaut ändert nicht nur den Blick auf die Tomate, sondern auf die ganze Welt
Ausgabe 52/2013
Tilmann Rammstedt
Tilmann Rammstedt

Foto: Frank May/ dpa

Tomaten sind einfach. Sie sind rot. Das habe ich gelernt, das habe ich mir gemerkt. Und wenn ich auf etwas treffe, das farblich einer Tomate sehr ähnelt, kann ich schlussfolgern, dass es höchstwahrscheinlich ebenfalls rot ist. Ich kann mir auch noch merken, dass eine Zitrone gelb ist und Gras oft grün. Eine Orange ist praktischerweise orangefarben und der Himmel blau, wenn er nicht zufällig lila ist oder grau oder rot, aber leider nicht tomatenrot. Also bin ich bei Sachen, die dem Himmel farblich ähneln, beim Schlussfolgern lieber vorsichtig. Bei allem Braunen bin ich noch viel vorsichtiger. Das meiste, was ich für braun halte, ist angeblich doch wieder grün. Ohnehin scheint es die Farbe Braun überhaupt nicht mehr zu geben, und mir hat keiner Bescheid gesagt, als das beschlossen wurde. Alles Braune heißt längst Ocker oder Capuccino oder Umbra oder etwas anderes, von dem ich nichts verstehe, und was mir übertrieben spitzfindig erscheint. „Aha, Umbra“, sage ich dann und vergesse es sofort wieder. Ich würde es sowieso nicht wiedererkennen.

Problem ICE-Toilettentür

Umgangssprachlich bin ich farbenblind. Präziser habe ich, wie fast jeder zehnte Mann, nur eine Farbsehstörung oder, medizinisch etwas vorwurfsvoller formuliert, eine Farbuntüchtigkeit. Die Genetik und augenärztliche Befunde behaupten das jedenfalls. Irgendwelche Aminosäuresequenzen auf meiner Netzhaut sind defekt, und wenn ich diese Sehtests mache, bei denen man in einem Haufen bunter Punkte eine Zahl erkennen soll, erkenne ich nie eine. Nicht einmal die, die angeblich nur Farbuntüchtige sehen können. Ich darf deswegen nicht Pilot oder Busfahrer werden, und als Modeberater müsste ich mich wahrscheinlich auf Hare-Krishna-Anhänger und Satanisten spezialisieren. Ansonsten ist eine Farbsehstörung mehr Partygesprächsthema als tatsächliche Einschränkung.

Im Alltag stellen eigentlich nur ICE-Toilettentüren ein Problem dar, an denen ich, weil mir die Farben des Besetztzeichens nichts sagen, rütteln muss, um zu prüfen, ob sie frei sind, wofür ich mich hier aufrichtig entschuldigen möchte. Ampeln haben eine Farbe oben und eine unten, das ist leicht, und nur beim Entschärfen von Zeitbomben wäre es wirklich unangenehm, zwischen den Kabeln nicht unterscheiden zu können. Aber in Ermangelung an scharfen Bomben in meinem Alltag führt die Sehschwäche bei mir lediglich dazu, dass ich mir um Farben insgesamt keine Gedanken mache und schon gar nicht um ihre Namen.

Ich sehe in Farbe, aber der automatisierte Denkvorgang, der beim Sehen gleich den Namen der Farbe mitliefert, fehlt bei mir, weil ich ihm ja ohnehin nicht trauen könnte. Ich weiß zum Beispiel nicht, welche Farbe das Haus hat, in dem ich seit sechs Jahren wohne. Ich könnte keine verlässliche Ode auf die Augen meiner Partnerin schreiben. Drei meiner Hemden sind mehr oder weniger weiß, eines wahrscheinlich blau, beim Rest habe ich keine Ahnung. Das stört nicht, die Dinge haben zum Glück noch andere Eigenschaften, an denen man sie erkennen kann, sie haben eine Form, sie haben teilweise Löcher oder Kringel, manche blinken.

Wenn ich eine Farbe benennen soll, muss ich also raten. Und früher hätte ich dabei vielleicht noch eine 50-prozentige Trefferchance gehabt, mittlerweile bewegen sich meine Quoten aber rapide auf den Promillebereich zu. Es gibt einfach viel zu viele Farben. Und täglich werden es mehr. Schon der Malkasten in der Schule kam mir mit seinem Ultramarin und Zinnober und gebranntem Siena reichlich übertrieben vor. Aber dann kamen Türkis und Anthrazit, es kamen Pflaume und Petrol, es kam Mauve. Mauve! Allen Ernstes: Mauve!

Zu faul für Unterscheidungen

Vielleicht trifft es die Bezeichnung „farbuntüchtig“ tatsächlich am besten, vielleicht bin ich schlicht zu faul, mir all diese Farben zu merken, diese Mintgrüns und Navyblaus und Apricots, diese Erweiterung des Malkastens ins Kleinkarierte. Ich stelle es mir wahnsinnig anstrengend vor, farbtüchtig zu sein. Jedes Bezeichnen ist doch eigentlich als Vereinfachung gedacht, als das Unterschlagen von feinen Unterschieden zugunsten einer groberen Gemeinsamkeit. Doch wie überall hat das Vereinfachen auch bei Farben einen zunehmend schlechten Ruf, ein einsilbiges Gelb oder Rot oder Braun reicht längst nicht. Es geht um Distinktionen. Kein Farbton soll, seine Individualität missachtend, vereinnahmt werden. Selbst Umbra ist im Grunde viel zu ungenau. Es gibt rohes Umbra und gebranntes Umbra, es gibt raffiniertes Umbra und, mit eigenem Farbcode, das Umbra der SPD. Und wahrscheinlich gibt es in ein paar Jahren auch noch gekochtes Umbra und Umbra Zero und das Umbra des SPD-Kreisverbands Dingolfing-Landau.

Wie Waschmittel und Musikrichtungen und sexuelle Vorlieben werden auch Farben immer weiter spezialisiert, minimale Abweichungen bekommen einen neuen Namen, werden in mehr oder weniger erfolgreichen Marketingkampagnen als Produktvariante eingeführt, und ich werde immer farbuntüchtiger, immer weniger kann ich auch nur halbwegs richtig zuordnen. Und wenn etwas einer Tomate farblich sehr ähnelt, ist es dann längst nicht mehr rot. Es hat seinen eigenen Namen. Nur noch Tomaten selbst sind dann tomatenrot. Und es gibt natürlich Cherrytomatenrot und Fleischtomatenrot und Strauchtomatenrot, was noch einmal in Balkonstrauchtomatenrot und Gewächshausstrauchtomatenrot unterschieden wird. Konsequenterweise gäbe es am Ende jede Farbe nur ein einziges Mal, weil ja auch sichtbare Unterschiede zwischen zwei Gewächshausstrauchtomaten bestehen. Und dann müsste man gar nichts mehr zuordnen, dann könnten auch die Allerfarbtüchtigsten nichts mehr ausrichten. Und ich könnte endlich wieder mitreden.

Tilman Rammstedt ist u. a. Träger des Ingeborg-Bachmann-Preises 2008 für einen Auszug aus Der Kaiser von China, erschienen bei DuMont. Dort erschien zuletzt auch Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

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