Es ist der 12. Oktober, 6.32 Uhr: Der ICE 511 „Neunkirchen“, unterwegs nahe Montabaur, Rheinland-Pfalz, meldet eine „technische Störung“. Um 6.36 Uhr heißt es: „Brand im Zug. An Wagen 33 brennt eine Achse.“ Später werden die Stuttgarter Nachrichten berichten, Fahrgäste hätten Rauch bemerkt, die Notbremse gezogen, woraufhin der Zug an einer Nothaltebucht auf offener Strecke evakuiert wurde.
Der in Flammen aufgegangene ICE hat auch die Debatte um die unzulängliche Wartung von Zügen der Deutschen Bahn AG neu entfacht. Zuletzt löste an der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Köln und Frankfurt am Main ein ICE einen Böschungsbrand aus und setzte ein knappes Dutzend Häuser in Brand. Im April 2010 verlor ein ICE auf derselben Strecke eine Tür, die in einen entgegenkommenden Zug einschlug. Und schon im Juli 2008 führte ein wegen eines „Radsatzwellenbruchs“ im Kölner Hauptbahnhof entgleister ICE zu Fragen nach der Wartungs-, Investitions- und Sicherheitspolitik der DB. Nur der niedrigen Geschwindigkeit des Zugs war es zu verdanken, dass es nicht zu einem Unglück wie 1998 in Eschede kam, als bei dem schwersten Bahnunglück in der Geschichte der BRD 101 Menschen ihr Leben verloren.
Die vier Vorfälle ereigneten sich nicht nur alle auf ein und derselben Hochgeschwindigkeitsstrecke, sondern zeugen zugleich allesamt von der Kapitalmarktorientierung der 1994 zur Aktiengesellschaft erklärten Deutschen Bahn. Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen sowie Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund „dichter Zugfolge“ lassen die Bahn als Transportalternative seit Jahren häufig unattraktiv erscheinen. Allein 2017 liefen 97.000 Züge nicht im Zielbahnhof ein. Und obwohl diese Zugausfälle nicht einmal in die Pünktlichkeitsstatistik eingehen, fährt die DB jeden Tag rund 8.000 Stunden Verspätungen ein. Überfüllte Waggons, fehlende Reservierungen, defekte Klimaanlagen, verschlossene Toiletten, ausverkaufte Speisen im Bistro und instabile WLAN-Verbindungen ... Sie kennen das wahrscheinlich selbst aus eigener Erfahrung.
All dies sind Symptome einer seit Beginn der Ära Hartmut Mehdorns im Jahre 1999 hartnäckig verfolgten Kapitalmarktorientierung. Vergessen ist, dass Verkehrsplanung auch deshalb zur Daseinsvorsorge gehört, weil sie Wachstums-, Integrations- und Versorgungseffekte zeitigt und deshalb in einer vernetzten Volkswirtschaft ein Instrument der Konjunktur- und Beschäftigungspolitik ist. Soll das von allen Umwelt- und Verkehrspolitikern geteilte Credo „Mehr Verkehr auf die Schiene“ Wirklichkeit werden, soll der „Verkehrsinfarkt“ in den Innenstädten mitsamt milliardenschweren „Staukosten“ und irreparablen Umweltschäden aufgehalten werden, dann muss das Schienenverkehrssystem besser, billiger und bürgernäher werden. Dazu müssten aber acht Punkte endlich umgesetzt werden:
1
Um Brücken zu sanieren, Oberleitungen zu warten, Trassen von Vegetation zu befreien und beheizte Weichen zu verlegen, braucht es mehr Investitionen in die Schienenverkehrsinfrastruktur. Nach wie vor begünstigen überproportional hohe Investitionen in den Straßenaus- und -neubau den motorisierten Individualverkehr und benachteiligen die Schiene. Finanzflüsse an die Bahn dürfen nicht länger als „Subventionen“ gescholten werden, während sie im Straßennetz als „Investitionen“ selbstverständlich sind.
2
Die bahnfeindliche Steuer- und Abgabenarchitektur muss ein Ende finden. Noch immer zahlt die Bahn als umweltfreundlichster Verkehrsträger nach dem Fahrrad sowohl Mehrwertsteuer wie auch – auf nicht elektrifizierten Strecken – Mineralöl- und Ökosteuer. Demgegenüber wird der grenzüberschreitende Flugverkehr von der Mehrwertsteuer ausgenommen, der Kerosinverbrauch weltweit nicht besteuert und somit hierzulande auch die Ökosteuer als sogenannte Annexsteuer nicht erhoben. Wenn Ryanair Flüge für 9,99 Euro anbieten kann, liegt das nicht nur an der unzureichenden Bezahlung der Beschäftigten, sondern auch an der massiven steuerlichen Begünstigung.
3
Die Bahn muss mehr Verkehr in die Fläche bringen und darf sich nicht länger aus der Peripherie zurückziehen. Während der Bund der DB AG das Stilllegen von Nebenstrecken, Personen- und Güterbahnhöfen erlaubt, „diffundiert“ der Verkehrsträger Flugzeug bis in entlegenste Regionen, wie die Flughäfen in Hahn, Kassel-Calden, Paderborn-Lippstadt und Weeze zeigen.
4
Statt auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag zu setzen, muss die Bahn den Fahrgastverkehr im Inland stärken. Es ist verfehlt, dass sich die DB als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister in mehr als 130 Staaten entfaltet, indem sie sich mit der Bonität der Bundesrepublik im Rücken auf Fluggesellschaften (BAX Global), Lkw-Speditionen (Hugo Stinnes GmbH), Fuhrparks (Bundeswehr) oder Bauvorhaben in Indien und Saudi-Arabien (DB Engineering & Consulting) konzentriert.
5
Es braucht eine Abkehr von Großbauvorhaben wie Stuttgart 21. Mehr als zehn Milliarden Euro wird das Großbauvorhaben verschlingen, aber nur geringfügige Fahrtzeitgewinne realisieren. Dabei sollte die Bahn in Projekte investieren, die den Verkehr für möglichst viele Bahnreisende stärken. Obwohl rund 90 Prozent aller Bahnfahrten auf den Schienenpersonennahverkehr entfallen, das heißt auf Strecken von unter 50 km Reichweite oder weniger als einer Stunde Fahrtzeit, fließen nur zehn Prozent aller personentransportbezogenen Investitionen dorthin.
6
Die Bahn muss die Fahrpreise stabilisieren, um als Massenverkehrsmittel für möglichst viele potenzielle Reisende erschwinglich zu bleiben. Stattdessen hat sie seit 2003 die Preise um 39 Prozent im Fern- und um 41 Prozent im Nahverkehr erhöht. Für Dezember sind erneut Tariferhöhungen geplant. Statt immer neuer Marketing-Strategien wie des kürzlich eingeführten „Super Sparpreises“ sollte eine Preispolitik zugunsten treuer Kunden verfolgt werden. Warum setzt die Bundesregierung keine Tarifobergrenze für Bahnreisen, wie 2014 mit der „Markttransparenzstelle“ für den Straßenverkehr?
7
Die Vergötzung des Wettbewerbs im Bahnverkehr muss ein Ende finden. Die DB AG steht bereits in einem intensiven Wettbewerb mit dem Straßen-, Luft- und Schiffsverkehr, es braucht keinen Wettbewerb zwischen verschiedenen Bahngesellschaften. Bei identischen Trassenpreisen kann Wettbewerb schließlich nur stattfinden, indem Arbeitsplätze abgebaut, Serviceleistungen reduziert und/oder Löhne gesenkt werden.
8
Bahnhofsgebäude müssen wieder zu Kulturdenkmälern, touristischen Aushängeschildern und Orten der Begegnung werden. Dazu muss die DB AG wenigstens in jene Bahnhöfe investieren, die sie nicht schon verkauft hat. Der kostenfreie Zugang zu Toiletten, der Fahrkartenverkauf am Schalter, das Verweilen in Cafés sowie der Umstieg in den öffentlichen Nahverkehr vor Ort – all diese Möglichkeiten muss der Bahnvorstand im Blick haben, um den Verkehrsträger Schiene wieder ins öffentliche Mobilitätsbewusstsein zu rücken.
Ganz grundsätzlich ginge es darum, die Kapitalmarktorientierung im Schienenverkehrssystem endlich zu beenden. Der generationenübergreifende Zeitraum, für den Investitionen in Infrastruktur ausgelegt sind, steht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zu den kurzfristigen Rentabilitätsinteressen eines zwar nicht börsennotierten, aber sich an der Börse orientierenden Unternehmens. Die DB-Vorstände müssen endlich begreifen, dass ein modernes Verkehrswesen, auf das jedes Industrieland schon allein wegen des Klimawandels angewiesen ist, Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die der Markt allein nicht bieten kann. Andernfalls droht uns ein zersplittertes, überteuertes und ruiniertes Bahnsystem nach britischem Vorbild. Dort wurde die Bahn in den 1990ern privatisiert. Heute wünschen sich zwei Drittel der Briten die Wiederverstaatlichung.
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