Täglich um 21 Uhr danken Menschen derzeit Pflegern und Ärzten mit minutenlangem Applaus für ihren Einsatz gegen das Corona-Virus. So viel Respekt für medizinisches Personal war selten. Zugleich fürchten wir spanische oder italienische Zustände in den Krankenhäusern. Dass in einem reichen Land wie der Bundesrepublik Covid 19-Patienten um ihr Leben bangen müssen, weil es in den Krankenhäusern an vergleichsweise simplen Ausstattungsmerkmalen wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten mangelt, ist ein Armutszeugnis – und schien bis vor wenigen Wochen undenkbar. Ob die Sorge um die Gesundheit zu einer gesundheitspolitischen Kehrtwende führt, bleibt abzuwarten. Fest steht hingegen, dass die derzeitige Misere im Gesundheitssystem das Ergebnis eines tiefgreifenden Kulturwandels darstellt. An die Stelle einer an den Bedürfnissen des Patienten orientierten Gesundheitsversorgung ist eine an betriebswirtschaftlichen Kriterien ausgerichtete Gesundheitsökonomie getreten. Nicht mehr die bestmögliche Versorgung des Patienten bildet das oberste Ziel, sondern die betriebswirtschaftlich optimale Behandlung.
Am augenfälligsten ist die „Vermarktlichung“ des Gesundheitswesens auf dem Weg von der Patienten- zur Kostenorientierung im Krankenhaussektor. Seit 1991 ist die Zahl der Krankenhäuser hierzulande um 20 Prozent gesunken. Die Zahl der Betten wurde seither um ein Viertel auf 168.383 reduziert, obwohl der Versorgungsbedarf in einer alternden Gesellschaft wächst und nicht sinkt. Und längst werden hierzulande mehr Krankenhäuser in privatwirtschaftlicher als in öffentlicher Trägerschaft geführt. Lag der Anteil der Privatkliniken an der deutschen Krankenhauslandschaft zu Beginn der 1990er-Jahre noch bei „nur“ 15 Prozent, stieg er zuletzt auf über ein Drittel. Damit wurde hierzulande ein Privatisierungsniveau erreicht, das nicht nur jedes andere europäische Land, sondern sogar die USA als das „Mutterland“ privater Kliniken übertrifft. Gleichzeitig zwingen klamme Kassen viele Städte, Gemeinden und Landkreise zum Verkauf ihrer Krankenhäuser an private Klinikbetreiber wie die Rhön-Klinikum AG, die Helios Kliniken, die Asklepios Kliniken und die Sana Kliniken AG.
Fallpauschalen und „englische Entlassungen“
Zugleich haben sich immer mehr Krankenhäuser auf Empfehlung von Unternehmensberatungen wie McKinsey, Roland Berger und BCG (Boston Consulting Group) von bedarfsgesteuerten Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu profitorientierten Gesundheitsunternehmen gewandelt: Gewinn- statt Gemeinwohlorientierung lautet die Losung inzwischen nicht nur in privaten Einrichtungen. Auch in öffentlichen Krankenhäusern, die von Städten oder Landkreisen geführt werden, sowie in frei-gemeinnützigen Häusern unter dem Dach der Kirchen, entfaltet die Renditeorientierung der privaten Krankenhausverbünde Druck. Da Personalkosten in Krankenhäusern den größten Ausgabenposten bilden, wird der Rotstift vor allem dort angesetzt. Allenfalls Chefärzte und kaufmännische Leiter werden in Krankenhäusern auskömmlich entlohnt. Letztere sorgen dafür, dass in Kombination mit dem Patientenklassifikationssystem namens Diagnosis Related Groups (DRG) der sogenannte „Case Mix“ stimmt. Der gleichnamige Index bildet den Ressourcenaufwand aller behandelten Krankenhausfälle ab und indiziert somit die betriebswirtschaftlich bestmögliche „Fallmischung“. Seitdem das 2003 eingeführte DRG-System, das dem Prinzip „Eine Leistung = ein Preis“ folgt, Eingriffe mit einem möglichst hohen Kostendeckungsgrad prämiert, haben „englische Entlassungen“ Konjunktur. Weil es für das Abrechnungssystem nach Fallpauschalen unerheblich ist, wie lange ein Patient im Krankenhaus verweilt, drängen die kaufmännischen Abteilungen der Krankenhäuser das medizinische Fachpersonal, die Liegezeiten der Patienten zu drosseln und kostengünstige Behandlungsmethoden zu wählen. Vielerorts wurden examinierte Pflegekräfte eingespart oder durch Pflegeassistenten ersetzt.
Regelmäßig wird von den Geschäftsführern und Vorstandsvorsitzenden privater Krankenhausbetreiber die Behauptung in den Raum gestellt, dass erwerbswirtschaftliche Einrichtungen dieselben Leistungen wie öffentliche Krankenhäuser erbrächten – allerdings ungleich effizienter. Dabei heben sie auf die betriebswirtschaftlich (!) kostengünstigere Vorhaltung medizinischer Leistungen ab, während Details dieses Kostenvorsprungs unausgesprochen bleiben. Dabei bekommen die Auswirkungen dieser Rationalisierungsmaßnahmen inzwischen nicht mehr nur die Beschäftigten, sondern auch die Patienten zu spüren. Spätestens dann, wenn private Krankenhausketten wie Sana, Helios, Rhön und Asklepios mehrere öffentliche Krankenhäuser in unmittelbarer Nähe voneinander erwerben, ist die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhauseinrichtungen bedroht, da diese Klinikketten ihre Standorte vielfach konzentrieren, sprich: sich aus der Fläche zurückziehen. Werden Standorte und Abteilungen nicht in Gänze geschlossen, so wird häufig die Zahl der Betten reduziert. Auf den Krankenhausgängen wurden unter anderem im Sana Klinikum Offenbach und in den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden, in den kommunal verantworteten Kliniken Fulda und Aschaffenburg-Alzenau sowie in den in freigemeinnütziger Trägerschaft geführten Krankenhäusern St. Vinzenz Braunschweig und Hedwigshöhe in Berlin Patienten platziert.
Kein Markt wie jeder andere
Seit Jahrzehnten propagieren Marktapologeten die Privatisierung der Gesundheitssysteme, obwohl die Andersartigkeit des Gesundheitsmarktes seit den Arbeiten des 1972 zum „Ökonomie-Nobelpreisträger“ gekürten Kenneth Arrow wissenschaftlich anerkannt ist. Das für funktionierende Märkte konstitutive Prinzip der Konsumentenfreiheit greift auf dem Gesundheitsmarkt nicht, weil Kranke nicht als Kunden auftreten, sondern dem Markt ausgeliefert sind. Während Güter und Dienstleistungen auf Märkten für gewöhnlich freiwillig in Anspruch genommen werden (Ausnahme: Drogenmarkt) oder aber als Privileg begriffen werden (Schulpflicht auf dem „Bildungsmarkt“), nimmt niemand freiwillig Gesundheitsleistungen in Anspruch. Unabhängig davon, wie preiswert oder effizient eine Behandlung ist, will niemand krank sein. Bei vielen Gütern können wir den Gürtel enger schnallen, aber wer schwer krank ist, kann nicht auf sein Medikament verzichten. Den Urlaub zu stornieren, weil es finanziell knapp wird, ist möglich, aber eine Krankheit lässt sich nicht zurückgeben, weil es gerade (finanziell) nicht passt.
Die Corona-Krise sollte auch den Marktgläubigen lehren, dass die Gesetzte der Ökonomie im Gesundheitswesen bestenfalls bedingt greifen. Soll das Patientenwohl wieder zum Ausgangspunkt ärztlichen Handelns werden, brauchen wir einen scharfen Kurswechsel. Dafür muss die fiskalische Strangulierung der öffentlichen Haushalte über die „Corona-Hilfspakete“ hinaus beendet werden. Der Verzicht auf die „Schuldenbremse“ in Zeiten historisch billigen Geldes wäre ein viel versprechender Anfang. Wenn man nun zum zweiten Mal nach der Finanzkrise 2008 die vermeintlich systemrelevanten Banken mit milliardenschweren Rettungspaketen „am Leben erhalten“ will, sollte dies auch für das Gesundheitswesen gelten: Wo sonst geht es darum, Leben zu erhalten, wenn nicht in Krankenhäusern?
Zugleich muss es gelingen, dem Druck der Krankenkassen standzuhalten. Sie drängen darauf, vom „Payer“ zum „Player“ zu werden, indem sie nicht mehr nur zahlen, sondern zugleich ihre Idee eines „kostenträgerorientierten“ Wettbewerbs umsetzen. Nicht ohne Grund gehört die Sana Kliniken AG als drittgrößte private Klinikgruppe hierzulande 25 Unternehmen der privaten Krankenversicherungen, die als Aktionäre der Shareholder Value-Orientierung verpflichtet sind. Die Corona-Pandemie wäre aber nicht nur ein geeigneter Ausgangspunkt, um den über die Privatisierung von Krankenhäusern und Gesundheitsleistungen forcierten Wettbewerb im Gesundheitswesen aufzugeben und die Pflegekräfte angemessen zu bezahlen. Zugleich sollte die Zwei-Klassenmedizin beendet werden, um zu verdeutlichen, dass die Würde aller Menschen unantastbar ist – und nicht nur die der privat Versicherten.
Um das Patientenwohl wieder zum Kern ärztlichen Handelns werden zu lassen, muss die Ungleichbehandlung im dualen Versicherungssystem beendet, die Finanzierung der Krankenhäuser via Fallpauschalen abgeschafft und der über die Privatisierung von Gesundheitsleistungen forcierte Wettbewerb aufgegeben werden. Das Geschäft mit der Gesundheit muss ein Ende finden. Nur dann wird das Krankenhausgesetz adäquat umgesetzt, wonach eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen das Ziel eines Krankenhauses sein muss. Wir sollten Gesundheitseinrichtungen nicht länger als Wirtschaftseinheiten begreifen und uns im Spiegel der „Corona-Krise“ an eine alte Volksweisheit erinnern: Gesundheit lässt sich weder in Geld noch in Gold aufwiegen.
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