Worin bestand für Sie die Motivation, sich sozialunternehmerisch zu engagieren und das Projekt „Housing First“ ins Leben zu rufen?
Das Engagement war doppelt begründet: Es ging uns einerseits um den Aufbau adäquater Hilfe für Wohnungslose, zugleich aber war unser Engagement auch politisch motiviert. Ein Schlüsselerlebnis war die Weihnachtsfeier im Düsseldorfer Kulturzentrum zakk vor vier Jahren, als wir feststellen mussten, dass wieder Wohnungslose verstorben waren. Vor dem Hintergrund unserer Philosophie, wonach wir – Wohnungslose und das Team des Düsseldorfer Straßenmagazins fiftyfifty – so etwas wie eine Familie sind (bei aller professioneller Distanz, die in der Sozialarbeit auch notwendig ist), reifte die Erkenntnis, dass chronifiziert obdachlose Menschen im bestehenden Stufensystem quasi überhaupt keine Chance haben, dauerhaft mit normalen Mietwohnungen versorgt zu werden und eine Verelendungsspirale die Folge ist. Meine Kollegin Julia von Lindern hatte sich auch als Lehrbeauftragte an der Hochschule Düsseldorf mit dem Housing First-Ansatz auseinandergesetzt. Es folgte eine Reise unseres Teams nach Wien, um Erkenntnisse vor Ort zu sammeln. Wir haben schlanke Strukturen – ganz im Sinne des lean management –, so dass Ideen stets gemeinschaftlich entwickelt und schnell realisiert werden können.
„Lean management“? Das klingt ganz nach einem unternehmerischen Ansatz.
Housing first stellt natürlich einen Paradigmenwechsel im System dar, aber die linke Attitüde, die lange Zeit ausschließlich auf Systemkritik zielte, lässt sich meines Erachtens unter den gegenwärtigen politischen Vorzeichen nicht mehr durchhalten. Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus gilt es, unser Sozialsystem nach Kräften zu verteidigen. Dafür nutzen wir bei fiftyfifty unsere Erfolge als Glaubwürdigkeitsvorsprung, d. h. unsere Arbeit wird immer von Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern sowie Trägern der Wohnungslosenhilfe begleitet. Und natürlich suchen wir gezielt die Öffentlichkeit, um u. a. über Social Marketing für unsere wohnungspolitischen Anliegen, aber natürlich auch unser Fundraising zu werben.
Housing First bedeutet: Es besteht von Anfang an ein normales, unbefristetes Mietverhältnis mit allen Rechten und Pflichten. Wohnbegleitende Hilfen werden aktiv angeboten: Betroffene werden dazu ermutigt Probleme mit Unterstützung anzugehen, aber nicht dazu verpflichtet. Dort wo Housing-First bereits praktiziert wird, sind die Ergebnisse überzeugend. Housing-First wurde Anfang der 90er Jahre in den USA entwickelt. In den USA wird es seither in einigen Städten erfolgreich praktiziert. In Deutschland ist der Ansatz noch nicht weit verbreitet.
Ist eine Triebfeder für Ihr sozialunternehmerisches Engagement auch in den fehlenden Erfolgen der staatlichen Sozial- und Wohnungspolitik zu sehen?
In jedem Fall. Wir sind bei fiftyfifty zunächst einmal vor allem politisch motiviert, wobei wir inzwischen nicht nur von NRW-Sozialminister Minister Laumann, sondern auch von allen im Düsseldorfer Stadtrat vertretenen Fraktionen – mit Ausnahme von AfD und Republikanern – Zuspruch erfahren. Hinzu kommt ein beispielloses Echo in bekannten Leitmedien wie Süddeutsche Zeitung, Zeit online, Stern TV etc. und Fachmedien, durch das wir Housing First bundesweit ins Gespräch gebracht haben. Nicht nur dadurch haben wir umfangreiche Beratungsarbeit bei vielen Trägern der Wohnungslosenhilfe und Kommunen geleistet.
Aus eigener Erfahrung und aus zahlreichen Forschungsvorhaben wissen wir, dass Wohnraum in Not geratene Menschen dauerhaft stabilisieren kann – insbesondere dann, wenn der Ansatz Housing first und nicht Housing only lautet. Housing First, wie wir es praktizieren, bedeutet, dass Obdachlose direkt von der Straße in Wohnungen gebracht und zudem professionell betreut werden. Dazu gehören auch tagesstrukturierende Maßnahmen, damit am Ende einer möglichen Vereinsamung in der neuen Wohnung vorgebeugt wird.
Für die Politik liegt ein wesentlicher Vorteil des Housing First-Projekts darin, dass die Kosten für die jeweilige Kommune gleich null sind, d. h. unser Modell der Bekämpfung von Obdachlosigkeit kostet die Städte und Gemeinden quasi nichts. Die Düsseldorfer Wohnungsbaugesellschaft SWD etwa verfügt über 9.000 Wohnungen. Würde die Stadt aus diesem Kontingent die ca. 300 benötigten Wohnungen für etwa 300 Straßenwohnungslose, die es in der Landeshauptstadt gibt – ein Großteil der Wohnungslosen wird in diversen Notunterkünften und nicht dauerhaften Betreuungseinrichtungen mehr oder weniger gut versorgt – zur Verfügung stellen, würde die Miete über Transferleistungen gesichert. Und die Betreuung würden Verbände wie die Diakonie oder andere wahrnehmen, über Fachleistungsstunden, die beim Landschaftsverband abgerechnet werden. Die Landschaftsverbände finanzieren sich über kommunale Umlagen, die Städte wie Düsseldorf sowieso zahlen – ob sie Housing First anbieten oder nicht.
Welche Hindernisse gab es zu überwinden?
In der Entstehungsphase war ein Hindernis die Schaffung einer funktionsfähigen Organisationsstruktur, wobei wir das weitestgehend aus dem etablierten fiftyfifty-Team stemmen konnten. Aber wir mussten uns sehr engagiert der Mittelbeschaffung widmen, d. h. auch bei Housing First stand am Anfang die Finanzierungsfrage, da wir die Wohnungskäufe nicht kreditbasiert finanzieren wollten, sondern diese bis heute über unsere Einnahmen aus dem Verkauf von Kunstwerken finanzieren, die wir in unserer Benefiz-Galerie verkaufen. Dort unterstützen uns etwa Gerhard Richter, Thomas Ruff, Andreas Gursky, Katharina Mayer und viele andere bedeutende Künstlerinnen und Künstler. Zu überwinden war auch die Skepsis im Team, ob in Düsseldorf überhaupt adäquate Wohnungen zu finden wären und ob Eigentümer an fiftyfifty verkaufen würden. Die Realität hat uns Lügen gestraft: Mittlerweile bekommen wir sogar Wohnungsangebote von sympathisierenden Eigentümern und Maklern, bevor diese auf dem Markt angeboten werden.
Wie bewerten Sie ihre Arbeit nach nunmehr vier Jahren?
Das Start-up war ein voller Erfolg: Nachdem wir schon viele Wohnungslose über die Erlöse aus den fiftyfifty-Verkäufen von der Straße holen konnten, sind wir dann mit Housing First und der Housing-First-Fonds-Gründung – zusammen mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband – im Jahre 2018 noch weitergegangen: Hatten wir bei fiftyfifty schon über 60 Menschen von der Straße geholt, so waren es über den NRW-weit tätigen Fonds zusätzlich noch 67 bei 22 Trägern in 14 Städten, für die wir Wohnraum erschließen konnten. Die ehemals Obdachlosen kommen selbst für die Miete auf, die sie zumeist über Leistungsbezug finanzieren. Die Einnahmen aus dem Verkauf von fiftyfifty oder den Spendengeldern bei alternativen Stadtführungen, die sie durchführen, kommen oft noch hinzu. Denn viele von ihnen arbeiten inzwischen als Stadtführerinnen und -stadtführer. Manche sind sogar wieder in regulärer Arbeit. Aber natürlich müssen wir uns auch immer wieder die Risiken vor Augen führen. Die Null-Zins-Politik wird die Immobilienpreise weiter steigen lassen; die Flucht ins „Beton-Gold“ ist ja allerorten zu beobachten. Derzeit kursiert in unserem Beirat sogar die Idee, eine Sozialbank im Sinne unserer Zwecke zu gründen, um der Genossenschaftsidee mit größerem Kapitaleinsatz Geltung verschaffen zu können. Wichtiger aber ist aus meiner Sicht, sich einzumischen und Druck zu machen, damit mehr Wohnungen für Benachteiligte und insbesondere Obdachlose gebaut und zur Verfügung gestellt werden. Das Beispiel Finnland zeigt: Zumindest die Straßenobdachlosigkeit kann überwunden werden. Auch in Deutschland. Es ist eine Frage des politischen Willens.
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