Zurück in die Zukunft

Zugstolz Die Bahn war schon einmal fit für das Klima. Dann kam die Privatisierung
Ausgabe 31/2019

Die bei sommerlichen Rekordtemperaturen hitzig diskutierte Klimakrise lässt in der breiten Bevölkerung das Bewusstsein wachsen, dass die CO₂-arme Bahn eine zentrale Rolle in der Verkehrswende spielen muss. Befeuert wird die Debatte durch den in Schweden geprägten Begriff der „Flugscham“. Die Forderung nach einem nachhaltigen Investitionsprogramm in die Schiene ist jedoch keineswegs ein Wetterphänomen: Bereits 2006 gründeten Gewerkschaften, Fahrgastverbände und linke Gruppen wie Attac vor dem Hintergrund der Bahnprivatisierung, des Schienenrückbaus und steigender Pkw-Zahlen das zivilgesellschaftliche Bündnis „Bahn für alle“. Schon 2009 schlugen sie zur Verkehrswende ein umfassendes Investitionsprogramm in die Schiene vor.

Rückkehr der Nachtzüge

Nun, zehn Jahre später, haben also auch fünf Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Reformvorschläge für die Bahn vorgelegt. In dem Papier mit dem Titel „Kurzstreckenflüge Zug um Zug auf die Schiene verlagern“ fordern die Politiker um Daniela Wagner, die DB AG bis 2035 nicht nur auf allen innerdeutschen Strecken „zur schnelleren, komfortableren und günstigeren Alternative (zu) machen“, sondern auch im näheren grenzüberschreitenden Verkehr. Die Pünktlichkeit soll erhöht, die Bahnangebote in den Abend- und Morgenstunden ausgeweitet und der flächendeckende Ausbau stabiler Mobilfunk- und W-Lan-Verbindungen an Bord umgesetzt werden. Auch zu einer Rückkehr der eingestellten Nachtzüge soll es kommen. Und um den Verlagerungseffekt tatsächlich zu erreichen, soll nach dem Willen des grünen Quintetts nicht nur die Umsatzsteuer von 19 Prozent für den innerdeutschen Streckenanteil internationaler Flüge gelten, sondern auch eine europäische Kerosinsteuer für EU-weite Flüge eingeführt werden. Gleichzeitig soll der schienengebundene Fernverkehr nur noch mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent belegt werden. Unter dem Druck des Grünen-Hochs ließ sich selbst der bayrische Ministerpräsident Markus Söder vom Reformeifer anstecken – und schlug die vollständige Befreiung der Bahntickets von der Mehrwertsteuer vor.

Sämtliche dieser Vorschläge werden seit Jahren von „Bahn für alle“ formuliert, von nahezu allen Verkehrspolitikern akzeptiert und von DB-Vorständen postuliert. Die entscheidende Frage bleibt nach wie vor offen: Wie kann es sein, dass der Bund als Alleineigentümer des Unternehmens nicht längst den verkehrspolitischen Vorgaben in Richtung Klimaschutz gefolgt ist? Viele der Maßnahmen ließen sich sofort umsetzen – etwa die genannte Verbilligung der Fahrscheine, die den Wettbewerbsnachteil der Bahn gegenüber Low-Cost-Airlines wie Ryanair, Eurowings und EasyJet zumindest auf innerdeutschen Strecken mit sofortiger Wirkung abmildern würde.

Stuttgart 21 zerstört Chancen

Um sicherzustellen, dass nicht weiterhin nur 70 Prozent der Fernzüge pünktlich in die Bahnhöfe einlaufen, könnte zudem rasch mit der Ausbildung von Lokführerinnen, der Einstellung von Zugbegleitern und der personellen Aufstockung von Ausbesserungswerken begonnen werden.

Die Reaktivierung der Trassen und der Wiederaufbau der industriellen Gleisanschlüsse wird allerdings mehr Zeit in Anspruch nehmen. Insgesamt wurde das Schienennetz seit 1994 um 17 Prozent reduziert, was rund 5.400 Kilometern entspricht. Die Zahl der Weichen wurde zulasten eines möglichst flexiblen Bahnverkehrs nahezu halbiert. Im selben Zeitraum wurden mehr als vier Fünftel der 11.742 industriellen Gleisanschlüsse gekappt. Angesichts dieses rekordverdächtigen Kahlschlags, der insbesondere unter Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn die Kapitalmarktfähigkeit der DB AG durch eine Liquidierung des Anlagevermögens sicherstellen sollte, kann der Niedergang der Bahn nicht verwundern. Der von „Bahn für alle“ geforderte Ausbau des europäischen Schienennetzes um 35.000 Kilometer entspräche dem Stand von 1970.

Investitionen in die Bahn setzen jedoch auch voraus, dass die Gelder nicht länger in gigantomanische Bauprojekte wie „Stuttgart 21“ fließen, für das der DB-Vorstand jüngst die Risikoreserve in Höhe von 495 Millionen Euro freigab, um die seit dem Baubeginn im Jahre 2010 verdreifachten Kosten zu decken. Die milliardenschweren Mittelabflüsse stehen in keinem Verhältnis zu den wenigen Minuten Fahrzeitgewinn auf den betroffenen Strecken. Mit fatalen Folgen für den Personen- und Güterverkehr zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen.

Auch die Kritik am Mehrwertsteuersatz auf Fernverkehrstickets ist übrigens nicht neu. Schon 2002 war dessen Halbierung in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung noch in Aussicht gestellt, zwei Jahre später erklärte das Bundesverkehrsministerium jedoch, „wegen der hohen Staatsverschuldung und der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“ sei die Umsetzung dieses Koalitionsziels „derzeit nicht beabsichtigt“. Doch warum sollte gerade die Bahn als umweltfreundlichster Verkehrsträger nach dem Fahrrad einen umfänglichen Beitrag zur Konsolidierung der chronisch unterfinanzierten Haushalte leisten? Könnten dies nicht die vielfach massiv subventionierten Flughäfen tun? Warum zieht man nicht die Einnahmen aus der Kfz-Steuer heran? Stattdessen wurde die jahrelange Benachteiligung der Bahn im intermodalen Wettbewerb mit der zum 1. Januar 2007 um drei Prozentpunkte erhöhten Umsatzsteuer verschärft.

Es geht also nicht einfach um mehr Investitionen in die Bahn; die Bahnpolitik der vergangenen Jahrzehnte muss die Richtung wechseln. Statt vermeintlich prestigeträchtiger Großprojekte braucht es eine intelligente Vernetzung von Nah- und Fernverkehr, eine engere Taktung des Fahrplans sowie einen Ausbau der Bahninfrastruktur im ländlichen Raum. Wie sich das verkehrswissenschaftliche Gesetz „Angebot schafft Nachfrage“ umsetzen lässt, zeigen die Schweizerischen Bundesbahnen. Im Einklang mit regelmäßig stattfindenden Volksabstimmungen wurden und werden Zugflotten modernisiert, Trassenengpässe behoben, Fahrpreise niedrig gehalten und Teilsysteme des öffentlichen Verkehrs engmaschig vernetzt. Während Deutschland im vergangenen Jahr nur 77 Euro pro Kopf in das Schienennetz steckte, wandten Österreich und die Schweiz trotz modernerer Infrastrukturnetze eine zwei- bis dreimal höhere Summe auf.

Als hiesiger Hoffnungsträger im Konzert der allzu häufig wenig versierten Verkehrspolitiker kann Richard Lutz gelten, seit 2017 Vorsitzender der Deutschen Bahn AG. Während seine Vorgänger Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube ihre prägende berufliche Sozialisation in der Automobilindustrie durchliefen, entstammt Lutz nicht nur einer Eisenbahnerfamilie, sondern blickt auch selbst auf eine lange DB-Karriere zurück. Vielleicht sollte künftig er die Verkehrspolitiker in den Bahntower einbestellen, bevor Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer wieder den DB-Vorstand zum Rapport bittet. Der bislang ebenso wie seine Amtsvorgänger blass agierende CSU-Politiker scheint nicht zu erkennen, dass die DB AG nur dann Fracht- und Fahrgastzuwächse verzeichnen kann, wenn der Bund als Alleineigentümer ausreichend Geld für Investitionen in den heimischen Schienenverkehr zur Verfügung stellt. Die vergangene Woche für einen Zeitraum von zehn Jahren zugesagten 86 Milliarden Euro für die Instandsetzung von Gleisen, Brücken und Bahnhöfen sind indes kein hoffnungsvolles Signal.

Jenseits von Investitionsfragen stellt sich in der Klimakrise die Organisationsfrage neu: Eine „schlanke“, gewinnorientierte Börsen-AG ist keine adäquate Rechtsform für ein zentrales, ressourcenschonendes Verkehrsmittel – eine ausreichend steuerfinanzierte Bürgerbahn könnte es werden.

Tim Engartner forscht als Sozialwissenschaftler zu Privatisierungspolitik und arbeitet derzeit an der University of California, Berkeley

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