Eine kleine Gruppe marschiert Mitte Dezember 1990 im Schneeregen über den Dresdner Altmarkt vorbei an den Buden des berühmten Striezelmarktes. Ihr Ziel ist das neue sächsische Wissenschaftsministerium. Man hat Termin beim Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Hans-Joachim Meyer. Dort will man um Gnade bitten. Seit vier Tagen ist es definitiv. Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig wird abgewickelt wie auch alle anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereiche.
Meyer empfängt die Gruppe mit einem kühlen Lächeln. Sektionsdirektor Hans Poerschke erzählt einem sichtlich ungeduldigen Zuhörer von den Reformanstrengungen an der Sektion seit zwölf Monaten. Er hat sich Beistand aus dem Westen mitgebracht. Günther Rager von der Universität Dortmund bescheinigt nach zahlreichen Besuchen den Enthusiasmus, mit dem das Rote Kloster versucht habe, in der neuen Zeit anzukommen. Statt Parteilichkeit sei nun Objektivität in der journalistischen Arbeit wichtigstes Prinzip für Lehre und Forschung. Es nützt nichts. Keine Gnade. Minister Meyer begründet die Abwicklung der „ideologisch belasteten Fächer“ damit, dass sie „nicht den Anforderungen einer freiheitlichen Gesellschaft und eines Rechtsstaates“ entsprächen. Und überhaupt, seiner Meinung nach könne man Journalismus nicht studieren. Wir sind entlassen.
Seminare als Therapiestunden
20 Jahre später. Kramen in alten Ordnern. Ich versuche das Jahr zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 an der Sektion Journalistik zu rekonstruieren, um eine Geschichte des Scheiterns zu erzählen.
Die Wende, besonders die Unerbittlichkeit des Umbruchs, hat viele Lehrkräfte überrascht, die zwischen der fünften und siebten Etage im „Weisheitszahn“, dem Leipziger Universitätshochhaus, sitzen. In den Jahren zuvor sind die Debatten in der Kaderschmiede des DDR-Journalismus heftiger geworden. Immer öfter fordern Studenten mehr Offenheit und Kritik in den Medien und fahren gegen die ideologische Mauer. Noch 1988 wird für den Studiengang Journalistik vorgegeben: „Ziel der Ausbildung und Erziehung ist ein Absolvent, der die Politik der Partei der Arbeiterklasse und des sozialistischen Staates jederzeit offensiv vertritt und verteidigt.“
Im September 1989 arbeite ich als wissenschaftlicher Assistent und gebe Seminare zu journalistischer Methodik. Draußen finden Montagsdemonstrationen statt. Sie werden mächtiger und aus Seminaren Therapiestunden. Die meisten Studenten kommen aus behüteten DDR-Elternhäusern. Ihre wie auch meine Welt nehmen Schaden. Statt im Seminarraum zu bleiben, gehen wir raus mit der einzig verfügbaren Videokamera, machen Interviews, versuchen gemeinsam das Geschehen journalistisch zu erfassen. Mehr als derartige Vermittlung von Handwerk kann die Sektion im diesem Herbst nicht bieten.
Dass in Leipzig offenbar auch zuvor Wert auf praktische Ausbildung gelegt worden ist, zeigen um diese Zeit viele Absolventen, die zu Chronisten der Wende werden. Ob als Moderatoren für das Jugendmagazin elf99 oder Reporter der Nachrichtensendung Aktuelle Kamera. Aber es hilft nichts – die Wende zerstört das theoretische Grundgerüst der Sektion und demontiert den Lenin-Satz: „Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator.“ Obwohl man sich auf die 1916 begründete Tradition des Leipziger Instituts für Zeitungskunde als „erster Lehr- und Forschungsanstalt auf dem Gebiet der Publizistik und des Journalismus auf deutschem Boden“ beruft, sind alle „bürgerlichen“ Theorieansätze aus dem Lehrbetrieb entfernt. Nur ist ohne theoretischen Grundstock kein Lehrbetrieb möglich. Also werden das erste und zweite Studienjahr Ende 1989 nach Haus geschickt. In einem halben Jahr will man sich Grundlagen des „neuen“ Journalismus erarbeiten. Zugleich häutet sich der Lehrkörper, aus treuen Parteigenossen werden parteilose Wendehälse. Nunmehr herrenlose Parteibücher stapeln sich. Professoren suchen nicht das Weite, sondern andere Ufer.
Im November wird eine neue Sektionsleitung eingesetzt. Günter Raue, bisher Prorektor für Erziehung und Ausbildung, wird Direktor. Ihm zur Seite stehen Klaus Preisigke, Lehrstuhlleiter Fernsehjournalistik, und der Pressehistoriker Hans Poerschke, der unter Studenten und Assistenten als Sympathisant von Glasnost und Perestroika gilt. Raue hingegen ist für die Exmatrikulationen missliebiger Studenten verantwortlich. Die Quittung gibt es prompt. Bei einer Vertrauensabstimmung im Dezember fallen er und Preisigke durch – Poerschke muss die Sektion allein führen und macht aus der Neuorientierung einen Wettbewerb um das bessere Konzept.
Auf der einen Seite stehen Studenten und akademischer Mittelbau. Sie wollen die Sektion zur Journalistenschule umwidmen – Handwerk statt Theorie. Die Professoren halten mehr vom akademischen Modell, die Sektion soll sich den theoretischen Grundlagen der Kommunikationswissenschaften öffnen. Aus heutiger Sicht der Anfang vom Ende. Die Debatten finden im universitären Glashaus statt, abgeschnitten von allen Zäsuren im Land und von einem schwindsüchtigen Staat.
Zur gleichen Zeit wird die Sektion zum Pilgerort. Das Rote Kloster öffnet seine Pforten. Journalisten West und Wissenschaftler West geben sich die Klinke in die Hand, Einladungen zu Medienkongressen fallen ab. Man schreibt Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften wie Media-Perspektiven. Zunächst zeigen sich beide Seiten eher schüchtern beim Umgang mit den Menschen aus dem jeweils anderen Deutschland. Nach gutwilligem Kennenlernen wird bald kritischer nachgefragt zur bisherigen Ausbildung in Leipzig und zum Part der Sektion im DDR-Mediensystem. Doch wer will schon zurückschauen? Ein Fehler, es nicht zu tun, wenn man einen glaubhaften Neuanfang möchte. Die Sektion wird für Dozenten aus dem Westen auch deshalb interessant, weil hier ein möglicher künftiger Arbeitsort mit Aussicht auf den Professorentitel wartet.
Das Finale rückt näher
Blauäugig heißt es in einem Text aus der Sektion für die Media-Perspektiven aus dem Sommer 1990: „So erweisen sich neue Möglichkeiten der wissenschaftlichen Kommunikation mit den Fachkollegen aus der Bundesrepublik als hilfreich und stimulierend. Es haben sich vielfältige Formen der Begegnung, Diskussion und nun sukzessive auch der Kooperation ergeben.“ Stattdessen macht sich mit beschleunigter Vereinigung bei den Kollegen aus dem Westen ein Vorgefühl der Konkurrenz bemerkbar, das dem Wettbewerb um Drittmittel für die Forschung gilt.
Die Studenten kehren im Frühjahr zurück. Geschehen ist nicht viel. Zwar lobt man sich, mittlerweile über einen „Grundstock an moderner westlicher Fachliteratur“ zu verfügen, doch gelesen hat ihn vom Lehrkörper kaum jemand. Man muss vielmehr eingestehen, dass „mit dem Wegfall der marxistisch-leninistischen Grundlagenausbildung ein Vakuum entstanden ist, das nicht sofort gefüllt werden kann. Viele Lehrunterlagen sind plötzlich untauglich“. Der Sommer 1990 verstreicht. Statt Studienbetrieb gibt es Projektwochen. Mitarbeiter der Sektionsverwaltung, immerhin über 100 Angestellte, werden in Kurzarbeit Null geschickt. Die Studenten äußern immer lauter Zweifel, ob mit dem vorhandenen Wissenschaftlerbestand eine notwendige neue Ausbildungsqualität überhaupt zu erreichen ist. Schließich nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand und veranstalten Kolloquien mit Praktikern aus Westdeutschland. Das Finale rückt näher, untrügliche Zeichen – am 12. Dezember 1990 machen Gerüchte die Runde, die Sektion werde abgewickelt. Es gibt eine Betriebsversammlung im Großen Hörsaal. Der Rektor der Karl-Marx-Universität verkündet den Beschluss der sächsischen Staatsregierung und verlässt den Raum. Zurück bleibt Schweigen. Als Vertreter des akademischen Mittelbaus fahre ich mit nach Dresden, um Einspruch gegen die Abwicklung einzulegen. Es soll meine Abschiedsfahrt werden. In diesem Moment gehöre ich eigentlich schon nicht mehr dazu. Mir ist eine Stelle beim neuen Regionalfernsehen angeboten worden. Trotzdem will ich den Rettungsversuch mit wagen. Das Ende ist bekannt.
Dass heute an der Leipziger Alma Mater noch Journalisten ausgebildet werden, ist den Studenten zu verdanken. Sie treten Weihnachten 1990 in einen Hungerstreik und setzen ein Programm Journalistik durch. Es garantiert bis zur Neugründung eines Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft 1993 ihre Ausbildung. Dort aber wird die Journalistik nur noch eine von fünf Säulen sein.
Tim Herden arbeitet heute als Journalist für das Hauptstadt-Studio der ARD in Berlin.
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