Flirrend liegt die Luft über den Gleisen im Bahnhof Tharandt. Die Signale stehen auf rot. Genau seit einem Jahr. Damals lief hier der Probebetrieb für die ICE-Strecke Dresden-Chemnitz-Nürnberg. Am 13. August 2002 sollte der reguläre Zugbetrieb beginnen. Zwei Tage zuvor kam die Flut. Der Bach Weißeritz wurde zum reißenden Strom, nachdem die Talsperre Klingenberg geöffnet werden musste, weil ein Bruch der Staumauer drohte. Die Bahnanlagen wurden vollends zerstört. Mühsam arbeiten sich nun die Bautrupps der Bahn durchs Tal, trassieren die alte Strecke neu. Nach Tharandt sollen Ende des Jahres wieder Züge fahren - nach Chemnitz frühestens 2005.
Die Wegweiser zur Straße durchs einst malerische Bade-Tal der Weißeritz sind noch immer rot überklebt. Bis zum Ortsausgangsschild Tharandt ist die Straße zwar erneuert, dahinter jedoch scheint die Zeit mit der Flut stehen geblieben. Wie vor einem Jahr klaffen große Löcher im Asphalt. An vielen Stellen ist die Straße buchstäblich abgestürzt und müsste neu unterfüttert werden. Erst nach drei Kilometern, im Ortsteil Edle Krone der Gemeinde Höckendorf, kommen die ersten Baufahrzeuge in Sicht. Ein Bagger gräbt sich durch das Bachbett. Baudezernent Rainer Schmidt steht zwischen den Bauarbeitern, die im Auftrag der Talsperrenverwaltung die Stützmauern in der Weißeritz reparieren. Seine Stimmung ist gedrückt.
Der Ort kann nunmehr seit einem Jahr nicht mehr mit dem Auto angefahren werden - und die Bauverwaltungen streiten weiter darüber, ob nun hier aus der alten Talstraße ein Autobahnzubringer wird für die A 17 von Dresden nach Prag oder nur einfach die Flutschäden repariert werden. Eine Entscheidung wird stets von Neuem vertagt. Dem Ort Edle Krone fehlt aber nicht nur die Straße, sondern seit einem Jahr auch das Trinkwasser. Früher wurde die zentrale Trasse durch die Weißeritz geführt - bis die Flutwelle alles zerstörte.
Eine neue Wasserleitung wurde daher vom Trinkwasserzweckverband aus Schutzgründen nicht wieder durchs Tal, sondern auf dem nahen Bergrücken des Tharandter Waldes verlegt. Die Bürger von Edle Krone erhielten zwar neue Brunnen, doch das geförderte Wasser ist arsenhaltig. Für die notwendigen Filteranlagen fühlt sich die örtliche Wasserwirtschaft nicht zuständig. Auf jeden Hausbesitzer kämen durch die Filteranlagen pro Monat bis zu 150 Euro an Kosten zu. Soviel zum Satz des Bundeskanzlers, keinem solle es nach der Flut schlechter gehen als vorher.
Überhaupt scheinen Behördenwillkür und Kompetenzstreit die Menschen im Weißeritztal mittlerweile mehr zu zermürben als die Folgen der Flut. Rainer Pfanne mäht wütend den jungen Rasen auf dem Stück Land, das ihm die Flut gelassen hat. Familie Pfanne kaufte 1992 die alte Bergwerksgaststätte Unverhofft Glück. Zum Grundstück gehörten neben der Schenke auch zwei Einfamilienhäuser, Garagen, Werkstätten und ein Schuppen. Die Flut riss bis auf die Gaststätte alles ins Tal, auch die Brücke, über die das Grundstück nur zu erreichen ist. Bis Dezember gab es keine Brücke mehr, dann - nach langem Streit mit Ämtern und Behörden - wurde durch das Technische Hilfswerk (THW) ein provisorischer Übergang errichtet, der eigentlich in den nächsten Monaten aus Sicherheitsgründen abgerissen werden muss. Doch bisher haben die Talsperrenverwaltung und die Baubehörden nicht die Genehmigung für eine neue Brücke erteilt. Ähnlich verhält es sich mit der Baugenehmigung für den Wiederaufbau des zerstörten Eigenheims.
Pfannes haben zwar im März den Bauantrag gestellt, doch vor Oktober, so die Behördenauskunft, werde keine Genehmigung erteilt. Rainer Pfanne versteht schon, dass es nach der Flut für die Verwaltungen viel zu tun gab: "Aber man muss ständig am Telefon hängen, oft sind die zuständigen Mitarbeiter nicht zu erreichen und wer nicht unablässig drängt, bei dem passiert gar nichts." Auch die Gaststätte durchziehen tiefe Risse. Aus Spendenmitteln und mit den eigenen Händen hat der gelernte Maschinenbauer die gröbsten Schäden selbst beseitigt.
Geld aus den Fluthilfefonds erhielt die Familie bisher nicht, denn das fließt nur, wenn die Gutachten bei der sächsischen Aufbaubank vorliegen und geprüft sind. Das braucht seine Zeit auf dem behördlichen Dienstweg. Auch bekommen Hochwasseropfer wie Pfannes nicht zu 100 Prozent das verlorene Hab und Gut ersetzt - nur 80 Prozent des Eigenheimneubaus zahlen Bund und Land, 20 Prozent muss das Ehepaar aus eigenen Mitteln bestreiten. Schon daran scheitert bei vielen Familien der Neubau eines Eigenheimes.
Viele Bewohner am Ufer der Weißeritz sind nach wie vor besonders über die Talsperrenverwaltung erbost. Noch immer ist ihre Mitschuld an der Flutkatastrophe ungeklärt. Viele vermuten, durch früheres Ablassen der Talsperre Klingenberg hätte die Katastrophe verhindert werden können. Das Management verweigert dazu jede Auskunft. Nach der Flut ist die Verwaltung zuständig für den Wiederaufbau des Bachbettes und der Uferanlagen der Weißeritz im Badetal bei Tharandt - aber Informationen über den Baufortschritt erhalten die Betroffenen nur aus der Zeitung.
So erfuhr Lutz Dietrich, dessen Grundstück auch vom Wasser abgespült wurde, aus dem örtlichen Anzeigenblatt, dass nun - nach einem Jahr - das verlorene Land aufgeschüttet werden soll. Dazu sei auf zehn Meter Breite der Uferbereich für die Baufahrzeuge frei zu räumen, heißt es. Dietrich ist empört, denn nach langem Warten haben seine Kinder erste Blumenbeete angelegt und sich einen Spielplatz gebaut. Beides muss wieder verschwinden. Zuvor hatte er mehrfach ohne Erfolg bei der Talsperrenverwaltung um Informationen darüber gebeten, welche Baumaßnahmen geplant seien. Der Familienvater fühlt sich verlassen, er trifft bei der eigenen Stadtverwaltung in Tharandt nur auf Hilflosigkeit, obwohl es eher angebracht wäre, auf diese Art von Behördenwillkür zu reagieren.
Dort, im Büro des Bürgermeisters sitzt Rainer Müller. Der korpulente Mittvierziger vertritt das Stadtoberhaupt - mit Vollbart und Halbglatze, in Fleischerhemd und Jeans, würde er eher zu den Bündnisgrünen passen, gehört aber zur CDU. Das hindert ihn nicht im Geringsten, seiner eigenen sächsischen Regierungspartei und seinem CDU-Regierungschef Georg Milbradt vorzuwerfen, sich gern mit Vorzeigeprojekten in Sachen Wiederaufbau nach der Flut zu empfehlen, aber die Sorgen der einfachen Bürger zu übergehen. Es ärgert ihn, dass Milbradt am 14. August auf seiner "Flut-Revival-Tour" zwar die Forstakademie in Tharandt besucht, aber keine Zeit hat für ein Gespräch mit den Flutopfern der Stadt. Manchmal fragt sich Müller, woher nun plötzlich das ganze Geld kommt für Fußwege, den neuen Stadtpark oder den Asphaltbelag der Ortsdurchfahrt. Jahrelang, so erzählt der stellvertretende Bürgermeister, hatte die Stadt Tharandt Anträge gestellt, die immer abschlägig beschieden wurden, weil kein Geld vorhanden sei: "Böse Zungen behaupten, es muss noch einmal eine Flut geben, damit auch noch die letzten Dreckecken beseitigt werden." Man will eben gern noch etwas zehren können von der Konjunktur nach der Flut.
Die Flut-Woche vom 12. bis 18. August 2002
im Rückblick
Montag, 12. August 2002
Nach tagelangen Regenfällen wird in Teilen des Erzgebirges und an der Pleiße im Altenburger Land Katastrophenalarm ausgelöst. Oberhalb des sächsischen Ortes Glashütte im Weißeritzkreis bricht der Damm eines Rückhaltebeckens des Flüsschens Briesnitz. Zahlreiche Orte in den tiefer gelegenen Regionen werden überschwemmt, Häuser und Straßen weg gerissen - es gibt die ersten beiden Todesopfer.
Dienstag, 13. August 2002
Das Hochwasser steigt weiter, die sächsische Stadt Glauchau versinkt teilweise in der Mulde, in Dresden steht der Hauptbahnhof unter Wasser, die Kunstschätze im Zwinger sind bedroht - Sachsen erlebt eine der größten Umweltkatastrophen seiner Geschichte. Auch die Innenstadt von Meißen ist zum Teil überflutet, noch schlimmer betroffen scheint die Kreisstadt Grimma (Sachsen) - Kanzler Schröder fordert eine Aussetzung des Bundestagswahlkampfes.
Mittwoch, 14. August 2002
In Dresden kämpfen Zehntausende gegen die Wassermassen, während aus Tschechien eine neue Flutwelle heranrollt. Experten befürchten, dass die Elbe einen Pegelstand von über 8,50 Meter erreichen könnte - vier Meter über normal. Die Krankenhäuser der sächsischen Hauptstadt werden teilweise evakuiert. Inzwischen erreicht das Hochwasser auch Sachsen-Anhalt - im Landkreis Bitterfeld tritt die Mulde über die Ufer und überspült die Orte Jeßnitz und Raguhn.
Donnerstag, 15. August
Im oberen Elbtal beginnt eine flächendeckende Evakuierungsaktion. 30.000 Einwohner aus den Städten Pirna und Heidenau müssen ihre Wohnungen verlassen, auch Bad Schandau steht unter Wasser. Der Elbpegel klettert in Dresden auf 8,46 Meter - der bis dahin höchste Stand wurde am 31. März 1845 mit 8,77 Meter gemessen. Inzwischen sehen sich auch Brandenburg und Sachsen-Anhalt immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. In Magdeburg sind Zehntausende im Einsatz, um die Elbdeiche zu befestigen. Tagelang wird in der brandenburgischen Elbestadt Mühlberg versucht, die Deiche zu sichern.
Freitag, 16. August 2002
An der Elbe in Dresden wird ein Pegelstand von 9,25 Meter gemessen, so dass ganze Stadtteile vollständig evakuiert werden müssen. Trotz des Einsatzes Tausender Helfer ist die Bitterfelder Altstadt überschwemmt. Mühlberg droht überflutet zu werden. Nach einem Besuch in der vom Hochwasser schwer heimgesuchten Stadt Grimma kündigt Kanzler Schröder ein Hilfsprogramm des Bundes an, die EU signalisiert eine Soforthilfe von einer Milliarde Euro.
Samstag, 17. August 2002
In Torgau (Sachsen) und bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt) brechen die Dämme. In Bitterfeld besteht die Gefahr einer Flutung des Chemieparks, während sich in Dresden die Lage leicht entspannt. Das in Meißen und Bad Schandau wieder sinkende Wasser hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Bei Dessau droht an diesem Wochenende die Mulde, die Autobahn A 9 zu unterspülen. Die Zahl der Todesopfer hat sich im Laufe der Woche auf 13 erhöht.
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