Von Slum zu Instagram

Film Londons Stadtteil Notting Hill hat eine bewegte Geschichte – nicht zuletzt als populärer Drehort
Ausgabe 25/2021
Hugh Grant charmant-romantisch in der Komödie „Notting Hill“ (1999)
Hugh Grant charmant-romantisch in der Komödie „Notting Hill“ (1999)

Foto: Ronald Grant/Imago Images

Der Name des Londoner Stadtviertels Notting Hill beschwört heute Bilder viktorianischer Townhouses, geschmackvoller Boutiquen und Flohmarktstände auf der Portobello Road herauf. Mit seiner Mischung aus beschaulicher britischer Dorfästhetik, kosmopolitischem Glamour und dem Echo des „Swinging London“ der 60er Jahre steht der Look des Bezirks wie kein anderer für die andauernde Anziehungskraft der englischen Metropole. Im Jahr 2019 schwärmte der „Instagram Guide London“: „Notting Hill ist absolut amazing! So ziemlich jeder in London würde gern in Notting Hill wohnen, weil es einfach wunderschön ist.“ Was Social-Media-Influencer hier für sich entdeckt haben, ist in der Film- und Fernsehwelt schon länger bekannt: Das im Westen der Stadt gelegene Viertel ist ein beliebter Drehort, der mit seinen bunten Hausfassaden, kleinen Gässchen und gemütlichen Cafés eine stilvolle urbane Britishness ausstrahlt.

Ein Film hat im Besonderen zu diesem Kultfaktor beigetragen: Die charmante romantische Komödie Notting Hill aus dem Jahr 1999, die weltweit zum Blockbuster avancierte, dürfte vor allem für viele Nicht-Londoner bis heute untrennbar mit dem Viertel verbunden sein. Nicht von ungefähr weisen sich lokale Shops noch immer lautstark als Drehorte des Films aus. Dort verliebt sich Hugh Grant als tollpatschiger Buchhändler in die Kinodiva Anna Scott, gespielt von Julia Roberts, und stellt der vom Ruhm entfremdeten Amerikanerin die verschrobenen, aber herzlichen Bewohner seines pittoresken Viertels vor. Die betonte Niedlichkeit des Films täuscht aber allzu leicht über die komplexe geografische Identität des realen Ortes hinweg.

Zum einen blickt Notting Hill zurück auf eine bewegte Geschichte als Zufluchtsort für Außenseiter, die im Mainstream der britischen Gesellschaft unerwünscht und ausgegrenzt waren; zum anderen erzählt die nur auf den ersten Blick glatte Oberfläche des Viertels eine Geschichte stetiger Verdrängung und Gentrifizierung, von der besonders die nicht-weißen Einwohner betroffen waren. Dass Julia Roberts als Anna Scott bei ihrem Besuch in Notting Hill nur den Gewinnern dieser radikalen Neuordnung des städtischen Raums begegnete, warfen dem Film schon bei seinem Erscheinen zahlreiche Kritiker vor. Im britischen Nachkriegskino hatte Notting Hill nämlich eine stolze Tradition als Setting sozialkritischer Filme, die sich nuanciert den Problemen der multikulturellen Bewohner widmeten.

Antirassistische Demo 1970 – heute ist die multikulturelle Subkultur weitgehend verloren ...

Foto: Evening Standard/Hulton Archive/Getty Images

Schweinezucht und Ziegel

In starkem Kontrast zur heilen Instagram-Welt von heute galt Notting Hill – besonders Notting Dale, der ärmere, nördliche Teil des Viertels – lange Zeit als unhygienischer Problembezirk. Bereits im Jahr 1850 schrieb ein Autor in der von Charles Dickens herausgegebenen Londoner Zeitschrift Household Worlds: „In einem dicht mit eleganten Villen und Anwesen bestückten Viertel sticht Notting Dale hervor wie eine Pestbeule, in seiner krankhaften Anmutung kaum erreicht von anderen Orten in London.“ Die Ursachen für diese Stigmatisierung sind zahlreich. So war das Viertel im 19. Jahrhundert mit den als unappetitlich geltenden Zünften der Schweinezucht und Ziegelbrennerei assoziiert und dementsprechend mit einer weißen Working-Class-Bevölkerung, die den Einwohnern des angrenzenden Villenviertels Holland Park suspekt war. Als diese Industrien nach und nach in die weiter außen gelegenen Vororte Londons verdrängt wurden, blieb in Notting Dale eine verarmte, aber eng verbundene proletarische Community zurück. In diese bereits aufgeheizte Atmosphäre stießen nach dem Zweiten Weltkrieg Einwanderer aus aller Welt, vor allem aber aus den karibischen Kolonien Großbritanniens, die voller Hoffnung auf ein besseres Leben die Hauptstadt des „Mother Country“ erreichten.

Dort aber erwartete sie Misstrauen und offener Rassismus. Notting Hill, vor allem Ladbroke Grove, der umgangssprachlich „The Grove“ genannte östliche Teil, wurde von profitgierigen Maklern in ein Ghetto für die ausländischen Neuankömmlinge verwandelt, die oft keine andere Wahl hatten, als die halbverfallenen Bauten zu beziehen. So entstand dort über die Jahre zwar eine lebendige schwarze Kulturlandschaft aus Läden, Restaurants und Clubs sowie dem noch immer jährlich stattfindenden Notting Hill Carnival; gleichzeitig aber ereigneten sich immer wieder brutale rassistische Übergriffe auf die nicht-weißen Bewohner, die in Fällen wie etwa dem Mord an Kelso Cochrane, einem antiguanischen Schreiner, im Mai 1959 gipfelten.

Eine Handvoll britischer Filme aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts behandelt dieses prekäre Zusammenleben und seine mal solidarischen, mal gewalttätigen Auswirkungen – zunächst vor allem aus weißer Perspektive. Das B-Movie The Wind of Change aus dem Jahr 1961 gibt mit seiner recht holzschnittartigen Handlung um eine weiße Arbeiterfamilie die Stoßrichtung vor. Als Tochter Gladys auf ein nächtliches Date mit einem karibisch-stämmigen Mann geht, überfällt sie ihr eigener Bruder mit seiner rechtsradikalen Teddy-Boy-Gang und schlägt ihren Begleiter halb tot. Der Film situiert das Rassismusproblem also vor allem im schlechten Charakter der Täter, nicht in systemischen Zusammenhängen.

Deutlich komplexer bearbeitet das Oscar-nominierte Melodram The L-Shaped Room aus dem darauffolgenden Jahr das Thema. Hier erscheint zum ersten Mal der Schauplatz des „Boardinghouse“, einer Art Hostel für Langzeitbewohner. In gleich mehreren Filmen fungiert es als narrativer Mikrokosmos, um die räumliche Nähe sowie die gemeinsame Klassenzugehörigkeit der multikulturellen Einwohner Notting Hills zu illustrieren. The L-Shaped Room zelebriert so eine ergreifende, aufrichtige Solidarität zwischen Bewohnern verschiedener Herkunft und sexueller Orientierung. Auf einer ähnlichen Erzählstruktur basiert das rund um die Portobello Road angesiedelte Musical The Moon Over the Alley. Der weitgehend vergessene Film von 1976 spielt ebenfalls in einem Boardinghouse und folgt episodenhaft den Schicksalen der Bewohner. Dabei wird der Film aber politisch durchaus expliziter als sein thematischer Vorgänger: Nicht nur deutet sein Ende mit dem Abriss des Hauses die kommenden Gentrifizierungswellen an, ein Abschnitt widmet sich auch konkret der afro-britischen Erfahrung mit Polizeigewalt.

Hedonisten und Rassisten

Das letztere Thema sollte im Laufe der 70er und 80er Jahre auch vereinzelt von schwarzen Filmemachern aufgegriffen werden. Während sich das weiße Autorenkino mit Notting Hill vor allem als Heimat hedonistischer Künstler, Hippies und Exzentriker befasste – beispielsweise in Nicolas Roegs Performance und Richard Lesters Der gewisse Kniff – und damit kritische Erfolge feierte, blieben Filme über den schwarzen Alltag wie Pressure (1976) von Horace Ové und Burning An Illusion (1981) von Menelik Shabazz weitgehend unter dem Radar. Beide Filme erzählen in eindrücklichen Bildern vom politischen Erwachen der zweiten Einwanderungsgeneration in Ladbroke Grove. Ovés Film folgt dem Teenager Tony, der mit dem Aktivismus seines älteren, noch in Trinidad geborenen Bruders zunächst gar nichts anfangen kann. Eine ähnliche Erzählung entwirft Burning an Illusion: Hier sehnt sich die 30-jährige Pat zu Beginn vor allem nach einem geregelten Leben und beruflicher Stabilität. Einschneidende Erfahrungen mit rassistischer Polizeigewalt motiviert die Protagonisten beider Filme jedoch, sich mit den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen und schließlich auch politisch aktiv zu werden. Gleichzeitig kreieren die Filme ein lebendiges Porträt ihres gemeinsamen Schauplatzes, zelebrieren karibisches Essen und Musik wie Dub, Reggae und Lovers Rock.

Beide Filme dienten Regisseur Steve McQueen so als Inspiration für seine gefeierte BBC-Serie Small Axe aus dem vergangenen Jahr (der Freitag 3/2021). Vor allem in der Episode Mangrove rekonstruiert McQueen liebevoll die weitgehend (wenn auch nicht gänzlich) verlorene multikulturelle Subkultur von Ladbroke Grove, musste für die Dreharbeiten aber bezeichnenderweise ins weniger gentrifizierte Kilburn ausweichen: Notting Hill eignete sich rein optisch nicht mehr als Abbild seiner eigenen Vergangenheit. McQueens überfälliger Rückblick auf schwarzes Alltagsleben in Notting Hill steht so im direkten Widerstreit mit der gegenwärtigen „Instagramisierung“ des Viertels.

Zunehmend setzt sich dieser sterile Look auch in aktuellen Mainstreamfilmen durch. Im kitschigen Hollywood-Drama Im Rausch der Sterne, das Bradley Cooper als Starkoch nach London schickt, ist das Viertel bloß gefälliger Hintergrund für elitären „Food Porn“; die deutsch-britische Tragikomödie Love Sarah nutzt den ehemaligen Problembezirk als Folie für die ultimative kleinbürgerliche Selbstverwirklichungsfantasie: die Eröffnung einer hippen Bäckerei. Es bleibt also zu bezweifeln, dass Small Axe eine Rückkehr von Geschichten nach Notting Hill signalisiert, die andere Perspektiven als die der weißen, wohlhabenden Gewinner der Gentrifizierung aufzeigen. Wer Notting Hill in all seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität auf der Leinwand erleben will, muss sich mit dem Blick zurück in die vielfältige lokale Filmgeschichte begnügen.

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