Im Datenkuckucksheim

Sicherheit Was wir im Netz uploaden, landet meist auf Servern, die US-Firmen gehören. Braucht Europa eine eigene Infrastruktur?
Ausgabe 38/2019

Schwere Zeiten für die Datenträger-Industrie: Die große Zeit der externen Festplatten, der DVDs und CD-ROMs ist definitiv vorbei – ihr Absatz ist seit 2011 auf die Hälfte bzw. ein Viertel eingebrochen; CD-Rohlinge tauchen seit zwei Jahren gar nicht mehr in der Statistik auf. Bei uns Usern verstauben derweil die schwarzen Kisten, die Plastikmappen mit gebrannten DVDs, die Spindeln mit zerkratzten CD-ROMs. Wie passt das zusammen mit dem exponentiellen Anstieg des weltweiten Datenaufkommens, dieses verdoppelt sich schließlich alle zwei Jahre, wo sind sie nur hin, all die Daten?

Unsere Daten sind jetzt sicher aufgehoben in der Cloud, so die Wohlfühl-Wortkreation der Marketing-Leute, durch meist in Weiß- und Blau-Tönen gehaltene Icons repräsentiert. Bequem, sicher und sauber ist sie, die fluffige Online-Datenheimat! Natürlich gibt es die Cloud, dieses Wolkenkuckucksheim für Daten gar nicht, es gibt nur, wie ein kluger Zeitgenosse einmal bemerkte, „Computer, die anderen Leuten gehören“.

In riesigen Hallen, sogenannten Data Centern, stehen sie herum in rauen Mengen, die schwarzen Kisten, die von unserem Desktop verschwunden sind. Im arktischen Eis, am Meeresgrund, in der Wüste, überall dort, wo es kühl ist oder der Strom billig. Steckte womöglich die Cloud-Industrie hinter Donald Trumps Versuch, Grönland zu kaufen? So sauber ist das Ganze auch nicht, das Internet ist bereits für zehn Prozent des weltweiten Energieverbrauchs verantwortlich. Über die Hälfte des Datenverkehrs im Downstream geht auf das Konto von Videostreaming, fand das kanadische Netzwerktechnologieunternehmen Sandvine heraus.

Die Geburtsstunde des Cloud-Computing liegt wahrscheinlich im Jahre 1961, die Mauer war noch nicht gebaut, und Steve Jobs gerade sechs Jahre alt. Der Mathematiker John McCarthy entwirft in der Festrede zum hundertjährigen Bestehen des Massachussets Institute of Technology (MIT) eine Zukunftsvision, die beim Publikum des Festakts vermutlich allzu phantastisch geklungen haben mag. McCarthy sprach davon, dass Computer-Berechnungen eines Tages als öffentliche Dienstleistung organisiert sein würden, genauso wie das Telefonsystem, für jedermann zugänglich. „Bestimmte Abonnenten bieten möglicherweise anderen Abonnenten Dienste an. Das Computer-Dienstprogramm könnte zur Grundlage einer neuen und wichtigen Branche werden“, fuhr McCarthy fort.

Vermutlich konnten die Gäste des Festakts wenig mit dieser Prophezeiung anfangen, die meisten Gäste dürften bis dato noch nie einen Computer zu Gesicht bekommen haben. Und doch sollte die Prophezeiung eintreten, allerdings erst ein halbes Jahrhundert später: Anstatt ihre eigenen Computersysteme zu kaufen, können Unternehmen oder Einzelpersonen IT-Infrastrukturen und -Dienstleistungen nutzen, die als Dienst gemietet werden und über ein Netzwerk (zum Beispiel das Internet) zugänglich gemacht werden.

2004 ging Facebook an den Start und bot seiner schnell wachsenden Fangemeinde an, Fotos und dergleichen zu „posten“, ein Jahr später dann wurde das erste Video auf die Plattform YouTube „hochgeladen“ und wiederum ein Jahr später war es erstmals möglich, auf Twitter einen Kurzkommentar „abzusetzen“. Alle diese „Beiträge“ aus der „Crowd“ mussten irgendwo gespeichert werden. Die jeweiligen Betreiber standen auf Grund des schnellen Wachstums ihrer Nutzerbasis vor dem Problem, ständig wachsende Systeme vorhalten zu müssen, um die neue Datenflut aufzunehmen. In dieser Zeit begannen große Unternehmen wie Google und Amazon damit, den Begriff „Cloud Computing“ zu verwenden, um das neue Paradigma zu beschreiben, in dem Menschen zunehmend über das Web auf Software, Computerleistung und Dateien zugreifen, anstatt auf ihre eigenen Desktops. Die neuen Systeme mussten nicht nur schnell wachsen, sondern auch dynamisch auf Lastspitzen reagieren können. In Spitzenzeiten, zum Beispiel für das Weihnachtsgeschäft bei Amazon, war kurzzeitig durchaus das Zehnfache der Rechen- und Speicherkapazität nötig.

Aus den Herausforderungen der Skalierung wurde ein Geschäft: Die Skalierungseffekte der Cloud-Dienste wurden damit zur Basis des Produktes Cloud-Computing selbst, das man ab da nicht mehr nur intern, sondern auch extern anbot. Bereits 2006 ging Amazon Web Services (AWS) als Tochterunternehmen an den Start und ist heute weltweit der größte Anbieter von Cloud-Computing. Amazon Web Services ist zudem der am stärksten expandierende Teil des Konzerns, und gleichzeitig der profitabelste: 74 Prozent von Amazons Gewinn entfielen 2018 auf AWS. Amazon ist also auch eine Datenplattform und ähnelt darin eher Google und Facebook als Walmart oder Otto. Heute verfügt Amazon über eine der größten Datensammlungen der Welt, mit AWS als Schlüssel-Infrastruktur, ohne die zum Beispiel die Alexa-Technologie (künstlicher Sprachassistent) nicht denkbar wäre.

Die Liste der größten Anbieter für Cloud-Speicherung und Cloud-Dienste liest sich wie das Who is Who des digitalen Kapitalismus: Amazon Web Services, Google Cloud Platform, IBM Cloud, Dropbox, Microsoft OneDrive, Apple iCloud Drive heißen die Marktführer – allesamt US-amerikanische Unternehmen. In China bietet sich derweil ein ähnliches Bild. Hier sind es die Suchmaschine Baidu, das Internet-Unternehmen Tencent und der Amazon-Klon Alibaba, welche über die größten Datensammlungen, die meisten Nutzer und die mächtigste Cloud-Computing-Infrastruktur verfügen. Kein Wunder, dass sich der Wunsch in Europa, eine europäische Cloud dagegenzuhalten, Zuspruch erfreut.

Datenwende muss sein

ÖVP-Chef Sebastian Kurz versuchte sich kürzlich mit dem Vorschlag einer österreichischen National-Cloud zu profilieren: Anbieter sollen Rechenzentren und damit Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzer innerhalb der Landesgrenzen errichten. Nur: solche Angebote gibt es schon längst, in Österreich zum Beispiel A1 digital, eine Tochter der teilstaatlichen Telekom Austria.

Viele Unternehmen und Institutionen, nutzen solche Dienste, insbesondere, wenn es um private Daten geht. Das in Berlin ansässige StartUp Edkimo, die eine Smartphone-basierte Feedback-App für Schulen anbietet, ein Bereich, in dem Anonymität und Datenschutz entscheidendes Verkaufskriterium sind, schreiben auf ihrer Website: „Unser Server steht in Deutschland zu geltenden Datenschutzbestimmungen. Er befindet sich in einem Rechenzentrum in Bayern“. Sicherheitsbedenken gegenüber den amerikanischen Datenkonzernen kann so entgegengetreten werden, die insbesondere durch die vor sechs Jahren durch die Enthüllungen Edward Snowdens bekannt gewordene umfassende Zusammenarbeit US-amerikanische Digitalkonzerne mit der NSA befeuert wurden.

Entscheidend ist weniger die Vertrauenswürdigkeit des jeweiligen Cloud-Anbieters als die aus dem Standort der Datenspeicher sich ergebenden Datenschutzbestimmungen. Stehen die Server in Deutschland, gilt die Europäische Datenschutzgrundverordnung, das derzeit weltweit strikteste Gesetzeswerk, wenn es um Datenschutz geht.

Aus dem bundesdeutschen Wirtschaftsministerium ist kürzlich ein Papier bekannt geworden, demzufolge ein europäisches Netzwerk an Cloud-Anbietern, „Gaia-X“ entstehen soll. CDU-Wirtschaftsminister Altmeier, der auch schon durch Forderungen nach einem europäischen Konzern für Künstliche Intelligenz hervorgetreten ist, möchte im Zuge dessen eine Organisation ins Leben rufen, die Technik und Richtlinien dafür definiert. Hierzulande macht man sich Sorgen, dass ausländische Cloud-Anbieter auch zur Industriespionage ausgenutzt werden könnten. Ziel ist, von den großen amerikanischen Anbietern unabhängig zu werden und europäische Datenreservoire anzulegen.

China, der andere große KI-Wettbewerber, hat solche Probleme nicht: Sie haben eigene Cloud-Anbieter, entwickeln eigene Soft- und Hardware und schützen sich zudem durch das Projekt „Goldener Schild“, manchmal auch als die „Große Firewall“ von China in Anlehnung an die chinesische Mauer genannt, eine Kombination aus gesetzgeberischen Maßnahmen und Technologien, um das Internet zu regulieren.

Knapp sechzig Jahre nach John McCarthys Festrede, ist seine Prophezeiung Realität geworden: Online abgerufene Software-Funktionen und Anwendungen sowie das Auslagern von gespeicherten Daten sind zur informationellen Grundversorgung wie Wasser und Strom geworden. Allerdings sind die Wolken keine öffentliche Infrastrukturen, sondern Privatgelände, in denen einige wenige Datenkonzerne mit ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein strenges Regiment führen. Aber es ist keine öffentliche Ressource, kein regulierter Bereich der öffentlichen Grundversorgung, sondern Wilder Westen in der Datenwelt, in dem private Konzerne den Extraktionismus betreiben, neuerdings mit Methoden Künstlicher Intelligenz.

McCarthy ist übrigens derjenige, der ein paar Jahre vor seiner Cloud-Weissagung den Begriff „Künstliche Intelligenz“ erfand für eine damals noch ganz junge Disziplin, deren Hauptziel die „künstliche Informationsbeschaffung“ ist – so eine vielleicht angemessenere Übersetzung des englischen „artificial intelligence“. Eben diese Technologien werden heute von den Cloud-Firmen eingesetzt, um die dort gespeicherten Daten auszubeuten – und wir helfen dabei tatkräftig mit – mit jedem Foto, jedem Post, jedem Tweet, der in der Cloud landet …

In China, im Land der „smart red cloud“, so der Name eines Social-Scoring-Portals für Kader der kommunistischen Partei Chinas, entsteht derweil eine staatsmonopolistische Variante des Überwachungs- und Vorhersage-Kapitalismus, die mit dem Silicon-Valley-Modell in Konkurrenz tritt. Gründe genug, eine Debatte um Alternativen jenseits des New Deal der Digitalkonzerne um Daten zu führen, der da lautet: Deine Daten gegen Bequemlichkeit, Überwachung inklusive. Wir brauchen eine Datenwende, genau wie wir auch eine Verkehrs- und Energiewende brauchen.

Info

Timo Daum ist Physiker, Sachbuchautor und Hochschuldozent. Im Frühjahr ist sein Buch Die Künstliche Intelligenz des Kapitals in der Edition Nautilus erschienen (192 S., 16 €)

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