Aus aktuellem Anlass: Pulverfass Ukraine

Aktion und Sanktion Die Lage an der russischen-ukrainischen Grenze wird immer undurchsichtiger. Mit dem weißen Konvoi droht die Krise nun in Krieg zu kippen. Ein Kommentar in Wort und Bild.

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Dieser Tage ziehen dunkle Wolken über Europa auf. Die Spannung in der Ukraine, zwischen NATO und Russland, steigt stündlich an und viele Zeichen stehen auf Krieg. Während sich im Krisenland die einzelnen Machtparteien bekämpfen, ziehen die Mächtigen der Weltpolitik auf großer Bühne die Fäden.

Muskelspiele auf beiden Seiten
Die NATO hält ja dieses Jahr in der Ukraine fleißig militärische Übungen ab - also in einem Land, in dem nicht nur ein Bürgerkrieg tobt, sondern zudem ein offener weltpolitischer Konflikt droht - und dabei mit rund 1300 Soldaten aus 16 Mitgliedsstaaten auch nicht gerade im moderaten Ausmaß. Putin zeigt sich im Gegenzug bereitwillig provozierbar und stänkert immer wieder auf seine zugegebenermaßen intelligente Weise zurück. Ginge es hierbei nicht um Millionen Menschenleben, könnte man glatt von Kindergarten-Szenen sprechen.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass in den 280 weißen Lastwagen vermutlich tatsächlich nur Hilfsgüter transportiert werden. Der Grund ist schlicht: In der Ukraine herrscht Bürgerkrieg, große Teile der Bevölkerung brauchen dringend Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs. Das geht von so einfachen, alltäglichen Dingen wie sauberes Wasser und Toilettenpapier bis zu Spezialnahrung für Säuglinge und Medikamente für Kranke und Verwundete. Und in der Ukraine leben aus verschiedenen Gründen auch Russen. Sie machen etwa 17 Prozent der 2,7 Millionen Einwohner aus.

Hilfsgüter als militärisches Hilfsmittel?
Während die NATO und ihre westlichen Verbündeten sich in ihrer krampfhaft rückwärtsgewandten Sicht auf die Weltpolitik in die Bedeutung der Ukraine-Krise für das „geopolitische Gleichgewicht“ verbeißen, schickt Putin den Russen in der Ukraine Hilfsgüter. Das macht man so als Staat: Man kümmert sich um seine Bürger, auch im Ausland und besonders in Krisengebieten.

Natürlich hat dieser Schachzug auch deutlich politische und geopolitische Facetten. Ein Teil der poltischen Botschaft richtet sich zum Beispiel an die Bürger in Russland: Putin kümmert sich um euch. Das hat eine ähnliche Wirkung wie die homoerotischen Hochglanzfotos des russischen Präsidenten: Putin zeigt Stärke. Oder Größe - die Interpretation sei jedem selbst überlassen. Ein anderer Teil der politischen Botschaft richtet sich an die Russen in der Ukraine: Ihr seid nicht allein.

Dazu lässt sich trefflich anmerken: Wenn ich meine Leute in ein Konfliktgebiet schicke - ob uniformiert oder in zivil - dann ist die Versorung natürlich ein taktischer Teil der strategischen Nachschubsicherung.

Notilfe, Politik, Weltpoltiik
Hier kommt die geopolitische Ebene ins Spiel: Natürlich wissen die Generäle der NATO, dass Putin niemals so blöd wäre, einen Konvoi als „Trojanisches Pferd der Moderne“ in die Ukraine zu schicken. Sogar ihre erzkonservativen ultrarechtsnationalen Statthalter in der aktuellen ukrainischen Regierung wissen das. Die Akteure in der Ukraine und im NATO-Hauptquartier wissen jedoch ebenso gut, dass die russischen Hilfslieferungen auch den russischen Kämpfern in der Ukraine zugute kommen werden. Gleichzeitig kann man jedoch nicht ohne eine halbwegs glaubhafte Erklärung einen Hilfskonvoi stoppen oder gar beschießen.

So wurde zunächst behauptet, dass Putin im Konvoi Waffen, Munition oder sogar Soldaten versteckt hat. Das wäre als Invasion allerdings weitaus weniger beeindruckend, als etwa ein oder zwei Kompanien regulärer Truppen. Angesichts dessen wird nun die wilde Theorie aufgestellt, Putin wolle auf irgendeine Weise einen Vorfall um den Hilfskonvoi auf ukrainischem Gebiet inszenieren, um einen Eingriff mit regulären Truppen zu rechtfertigen. Passenderweise kam am heutigen Freitag direkt der entsprechende Vorfall mit angeblich russischen Truppen an der ukrainischen Grenze.

Murks im Marketing
Schließlich will sich die westliche NATO in diesem künstlich geschürten Konflikt als Bewahrer des Guten mit reinweißer Weste präsentieren und bemüht sich derzeit intensiv, die Gegenseite im ewiggestrigen Stil als bolschewistische Bedrohung zu verkaufen. Irgendwie passt da ein Hilfskonvoi von den bösen Russen ebenso wenig ins Marketing, wie Engel der Demokratie, die einen Hilfskonvoi aufhalten. Putin hat der NATO mit seinem Hilfskonvoi PR-technisch einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht.

Angesichts diverser Provokationen und Sticheleien von allen Seiten wurde auf der geopolitischen Ebene nebenbei noch eine Spielkarte bemüht, die in manch einem Konflikt sehr wirkungsvoll sein kann und oft schon war, doch in dieser Krise einfach nur wie sinnlos Stänkern erscheint: Sanktionen.

Aktion, Reaktion, Sanktion!
So erklärte Deutschland einerseits, nun wolle man keine Waffen mehr nach Russland schicken. Russland ist selbst einer der größten Produzenten und Exporteure, eine derartige Drohung ist einfach nur albern - zumal England und Frankreich umgehend erklärten, sie würden solcherlei drastische Maßnahmen gegen die heimische Waffenindustrie niemals mittragen.

Russland ließ seinerseits verkünden, Europa möge sich warm anziehen, man werde die Öl- und Gaslieferungen stoppen. Mit den wachsenden Bestrebungen nach einer Energiewende in Europa wird dieses Druckmittel allerdings immer wirkungsloser. Wirklich Angst bekommt da höchstens die chemische Industrie - allerdings gibt es genügend Erdöl zur Plastikproduktion auf dem Weltmarkt zu kaufen, Gas gibt es auch aus anderen Ländern und noch sind die europäischen Tanks gut gefällt. Nebenbei bemerkt ist es eher unwahrscheinlich, dass Russland kurz nach der Inbetriebnahme der Nordstream die Leitungen dicht macht - immerhin muss sich die Leitung bezahlt machen und frische Devisen kann Russland auch durchaus gut gebrauchen.

Jetzt hat die EU unter - na klar! - deutscher Federführung Sanktionen gegen den Export von Agrargütern und Lebensmitteln nach Russland verhängt. Im ersten Moment war ich baff. Denn Russland produziert in weiten Teilen des Landes selbst -zigtonnenweise Agrargüter und handelt damit fleißig auf dem Weltmarkt. Allerdings wurde bereits zu Beginn der Krise im April berichtet, dass rund 100.000 Tonnen Pflanzkartoffeln aus Deutschland an der russischen Grenze zurück gehalten wurden - von russischen Behörden und zum großen Entsetzen der russischen Kartoffelbauern. Jetzt soll der Nahrungsmittelhahn also ernsthaft zugedreht werden. Der Wirkungsgrad dieser Maßnahme bleibt abzuwarten - immerhin wird sich Russland auf China verlassen können.

Agrar-Utopie in Russland?
Die Reaktion aus Russland allerdings hat mich direkt zu einer weiteren Karikatur inspiriert: Denn Putin eröffnet seinem Land und der Welt völlig unbeeindruckt, dann würde Russland das jetzt eben alles selbst machen: Waffen, Kartoffeln, Rindfleisch, alles. Nun ist Russland wirklich groß. Verdammt groß. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, welche unermessliche Weite die russische Taiga, die Steppen und Wälder dem Besucher eröffnen, wie schier unglaublich groß das Land von West nach Ost und von Nord nach Süd tatsächlich ist, wenn man quadratkilometerweise Weizen oder Kartoffeln anbauen und ein paar hunderttausend Rinder auf der Wiese mästen will. Putin scheint also achselzuckend einen poltisch und geopolitisch genialen Schachzug zu landen.

Steak mit Altlasten
Allerdings hat Russland eine lange Geschichte der Industrialisierung, der militärischen Aufrüstung und der weltpolitischen Machtkämpfe. Um es so auszudrücken: Die Rücksichtslosigkeit für Mensch und Umwelt während der Zeit der Sowjetunion hat das Land streckenweise für jahrhunderte unbewohnbar gemacht. Als Recherche-Tipps nenne ich da: Baku (Öl- und Chemie-Industrie), die Gegend um Majansk (Atombomben-Test-Gelände), die Problematik um die Öl- und Gasfelder bei Nowosibirsk, die verrottenden Atom-Uboote der Nordflotte und die offen herumliegenden Atom-Reaktoren in Wladiwostok. Dazu kommt, dass Russland seit Jahrzehnten den Atom-Müll europäischer Atomkraft-Betreiber „entsorgt“ und dabei ähnlich vorgeht, wie einst die italienische Mafia mit ihrem Schiffe-versenken-Dienst. Die Russen kippen die alten Brennstäbe, abgerüstete Atombomben, Klärschlämme und Dekontiminationsabfälle einfach unter freiem Himmel in die Landschaft. Besonders in Frankreich gab es da richtig Ärger für Areva und ihre Töchter.

Mit anderen Worten: Russland hat wirklich verdammt viel Land, auf dem man trefflich Landwirtschaft betreiben könnte, allerdings ist ein nicht unbedeutender Teil der verfügbaren Landes schlichtweg vergiftet. Egal, ob man da Karotten ziehen oder Hühner züchten kann - der Verzehr dieser Nahrungsmittel wäre regelrecht lebensgefährlich!

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Ich bin wirklich gespannt, wie es in der Causa Ukraine weiter geht. Es geht vermutlich Millionen Menschen in Europa ähnlich wie mir: Wir wollen keinen weiteren sinnlosen Krieg um ein veraltetes Machtgefüge zu erhalten. Fakt ist, dass die Ukraine derzeit einem Pulverfass gleichkommt, das mit jedem weiteren Funken zu explodieren droht. Ein weiterer Fakt ist, dass wir von jeder Seite schlichtweg angelogen wurden und werden: Es geht um große Politik und es geht um Krieg. Die große Politik sieht Transparenz traditionell als hinderlich, aktionshemmend und sicherheitsgefährdend an.

Wer kennt die Wahrheit?
Das bedeutet für uns Bürger vermutlich soviel wie: Wir dürfen uns glücklich schätzen, die jeweils einseitige Version der Geschehnisse mit passenden Bildern präsentiert zu bekommen.

Und die Wahrheit zum Krieg? Nun - das erste, was im Krieg stirbt, ist bekanntlich die Wahrheit.

Quellen:
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Ukraine_node.html http://de.ria.ru/infographiken/20140721/269064383.html http://www.neues-deutschland.de/artikel/940649.nato-bereitet-manoever-in-ukraine-vor.html http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-nato-und-russland-starten-seemanoever-im-schwarzen-meer-a-979391.html http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-473.html http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-truppen-greifen-russischen-konvoi-an-a-986396.html http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/717003/Die-20-grossten-Waffenexporteure-der-Welt http://www.welt.de/wirtschaft/article129778274/Waffenhersteller-jammern-ueber-Exportkontrollen.html http://de.wikipedia.org/wiki/Atomm%C3%BCllproblematik_der_Russischen_Marine http://www.tagesschau.de/wirtschaft/russland856.html http://www.deutschlandfunk.de/russland-und-die-ukraine-die-nato-muss-umdenken.724.de.html?dram:article_id=282848

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Essner

Flensburger Jung, zweisprachig aufgewachsen, dritter Sohn von Literaten.Karikaturist und freier Redakteur in diversen Publikationen on- und offline.

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