Ökonomie der Armut

Geld & Gesellschaft Mit der neuen rechten Gewalt drängt sich ein Verdacht auf: Besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Armut und Ausländerfeindlichkeit? Ein Kommentar in Wort und Bild

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Ökonomie der Armut

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Ich muss an dieser Stelle wohl nicht resümieren, was in den letzten Wochen in Deutschland geschehen ist. Fremdenfeindlichkeit und extremistische Angriffe dominieren die Straßen, die Foren und die Nachrichten. Dabei häufen sich die Straftaten in bizarrem Ausmaß und nehmen erneut und entgegen jeglichen Lehren aus der Geschichte menschenverachtende Formen der untersten Schublade an – es ist, als hätten wir Jahrhunderte der kulturellen Entwicklung komplett über Bord geworfen.

Die Mär des Sozialmissbrauchs

Eine der mit Abstand beknacktesten Behauptungen von latent oder direkt Fremdenfeindlichen ist das halbgare Argument, die Flüchtlinge kämen systematisch als „Sozialschmarotzer“ ins Land. Angesichts der Kosten einer Flucht – vom Verlust der Heimat und der Habe bis zu den horrenden Gebühren für die Schlepper – ist HartzIV kaum ein finanzieller Anreiz. Mal ganz abgesehen davon, dass die Lebenshaltungskosten in Deutschland höher sind als in Afrika, in Syrien oder auf dem Balkan – das wissen auch die Flüchtlinge.

Eingebetteter MedieninhaltKarikatur: „Fluchtplan“; Quelle: www.timoessner.de

Man muss den Spieß einfach mal umdrehen: Was müsste passieren, damit Sie alles aufgeben und sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse über unsichere Pfade und in einer Nussschale übers Meer aufmachen würden? Die Aussicht auf monatlich 325 Euro „Asylbewerberleistung“ oder Hungersnot, tödliche Armut und Krieg?

Jeder ist sich selbst der Nächste

Nach unten zu treten kann sich offenbar so anfühlen, als würde man selbst auf der gesellschaftlichen Leiter eine Stufe aufsteigen. Indem man andere erniedrigt, wird die eigene aussichtslose Existenz ein wenig erträglicher. So lässt das fadenscheinige Argument „Sozialmissbrauch“ erahnen, was dahintersteht: Es ist die Angst vor Benachteiligung. Das Gefühl, von der Politik vergessen und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein.

Stattdessen sehen die Verlorenen dabei zu, wie sich ein tatkräftiges allgemeines Engagement für „die Fremden“ entwickelt – und befürchten dabei, endgültig unter die Räder zu kommen und verdrängt zu werden. In dieser jahrzehntelang ungehörten Aussichtslosigkeit richten sie ihre Wut auf die noch Schwächeren der Gesellschaft – auch wenn ihnen dazu manchmal nur die Tastatur zur Verfügung steht.

Keine Arbeit, keine Perspektive, kein Mitleid

So beschreibt der Journalist Jakob Augstein in einem Beitrag vom 30. August auf seiner Facebook-Seite die Konfrontation eines Facebook-Hetzers mit seinen Äußerungen: „Als die Reporter [vom Magazin Spiegel TV] ihn finden, leistet er für einen Euro in der Stunde gemeinnützige Arbeiten in einem Kirchgarten. Dort wird er von seinem Sozialarbeiter und den Reportern zur Rede gestellt.“ Das Gespräch verläuft eher einseitig: Der Mann ist wortkarg, kann nicht so recht erklären, warum er Flüchtlinge in Konzentrationslager stecken will. Es sei halt seine Meinung. Augstein schlussfolgert resignierend: „Er hat keine Zähne und keine Ahnung. Er hat keine Arbeit und keine Hoffnung.“

Die Kosten steigen, die Ersparnisse sind dahin

Es wird vermutlich die wenigsten wundern, dass Arbeits- und Perspektivlosigkeit die Menschen zu gefühlstauben Egoisten machen kann. Not ist bekanntermaßen ein vorzüglicher Nährboden für Vorurteile. Die Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie Krisen und Armut dafür genutzt werden, um Stimmung gegen andere zu machen. Aus Futterneid wird Fremdenhass.

Eingebetteter MedieninhaltKarikatur: „PEGIDA“; Quelle: www.timoessner.de

Während die Lebenshaltungskosten in den vergangenen Jahren stetig anstiegen, hat sich das Lohnniveau kaum entsprechend entwickelt. Selbst wenn Gewerkschaften eine Lohnsteigerung aushandeln, wird diese zuweilen schon von der Strompreisentwicklung direkt aufgefressen.

Hinzu kommt, dass der traditionell sparbewusste Deutsche längst an die Reserven gehen musste – entweder, weil man die allgemeine Preissteigerung mit der Altersvorsorge ausgleichen muss, oder weil es sich schlichtweg nicht mehr lohnt: Vom klassischen Sparbuch bis zum Tagesgeldkonto, es findet sich kaum noch eine sichere Sparmöglichkeit. Im Gegenteil: Viele Menschen wurden seit 2008 über Zinsanpassungen von durchschnittlich über vier auf aktuell unter einen Prozent und den fehlenden Inflationsausgleich regelrecht ihrer Ersparnisse beraubt. Das schürt zusätzlich Unsicherheit und Zukunftsängste.

Milliardenschwere Bankenrettungen und medienwirksam aufgeblähte Hilfspakete für Griechenland tun ein Übriges, um das Gesamtbild zu festigen: „Die da oben“ helfen allen anderen und zuerst sich selbst, aber nicht ihrer eigenen Bevölkerung.

Armut und Extremismus

Der Blogger Felix „Fefe“ von Leitner stellte am 24. August angesichts der Meldung über zwei Rechtsradikale, die in einer Berliner S-Bahn auf eine Frau und ihre beiden Kinder urinierten, die interessante Frage: „Gibt es da eigentlich schöne Statistiken drüber, ob Nazis unter den Hartz IV-Empfängern überrepräsentiert sind?“

Tatsächlich gibt es dazu keine Erhebung. Das liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass die politische Ausrichtung aus nachvollziehbaren Gründen keinen Einfluss auf einen ALG-II-Antrag hat und haben darf. Es finden sich allerdings Kennzahlen zu jeweils Arbeitslosigkeit und rechtsextremer Gewalt.

Statistiken im Vergleich

Aus dem Bericht der Bundesagentur für Arbeit zur Arbeitslosigkeit in den Bundesländern lassen sich die monatlichen ALG-II-Quoten und Arbeitslosenquoten insgesamt entnehmen, bspw. für den April dieses Jahres. Es gibt aktuellere, aber Destatis hat bis dato die relevanten Vergleichsdaten nur für April parat.

Die erste Statistik zeigt also absteigend die Daten der Arbeitsagentur über die relative Arbeitslosigkeit in den Bundesländern.

Eingebetteter MedieninhaltMonatlicher Bericht zur Arbeitslosigkeit der Länder: Kennzahlen zur Arbeitslosenquote im April 2015; Quelle: www.arbeitsagentur.de

Diese Statistik beschreibt allerdings nur die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 63 und ist daher nur bedingt aussagekräftig. Darum vergleichen wir mit der Statistik von Destatis: Hier wurden die Zahlen der Arbeitsagentur umgerechnet auf die Bevölkerung und damit der absolute Anteil der ALG-II-Empfänger in den Ländern bestimmt. Es sind also alle enthalten, die tatsächlich von HartzIV leben – auch Kinder und Senioren, deren Rente nicht ausreicht.

Eingebetteter MedieninhaltStatistik zum Anteil der ALG-II-Empfänger an der Bevölkerung nach Bundesländern im April 2015; Quelle: www.statista.de

Nun nehmen wir die Zahlen über rechtsmotivierte Gewalttaten zur Hand. Das ist nicht ganz einfach, denn die Berichte klaffen weit auseinander. Während die Bundesregierung vorsichtige oder – anders ausgedrückt – weißgebügelte Statistiken pflegt, zählen Beobachter der Szene zum Teil doppelt so viele Straftaten wie die Behörden.

An dieser Stelle nehmen wir als Vergleich die „vorsichtige“ Jahresstatistik von 2014, welche von „Netz gegen Nazis“ auf der Grundlage von offiziellen Statistiken des Bundesministeriums des Inneren (BMI) gesammelt wurde; die Statistik für 2015 liegt logischerweise noch nicht vor.

Eingebetteter MedieninhaltQuelle: „Netz gegen Nazis“, Länderranking für rechte Gewalt, auf der Grundlage von Daten des Bundesministerium des Inneren (BMI)

Nun muss man bei Schlussfolgerungen aus Statistiken immer etwas vorsichtig sein. Sicherlich spielen viele weitere Faktoren eine wichtige Rolle im Komplex aus Armut und Extremismus – vom allgemeinen Bildungsgrad über das soziale Umfeld bis zur individuellen Mordlust.

Allerdings ist eines direkt auffällig: Vergleicht man die sieben Bundesländer, die ganz offiziell mehr als zwei politisch motivierte Straftaten rechter Gewalttäter pro 100.000 Einwohner vermelden lassen, mit dem Ranking der ALG-II-Bezieher in den Ländern, dann tauchen immer wieder die gleichen Namen auf: Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg.

Stellt der Stadtstaat Bremen in diesem Vergleich mit einem Höchststand im ALG-II-Ranking (Platz 2 mit 14,6 %) ein positives Beispiel für relativ wenig rechtsmotivierte Gewalttaten dar (0,46 rechtsextreme Straftaten pro 100.000 Einwohner), fällt Thüringen umgekehrt auf traurige Weise auf: Bei „nur“ 8,0 Prozent Anteil an ALG-II-Beziehern in der Bevölkerung wurden hier im vergangenen Jahr 2,27 rechtsextreme Straftaten pro 100.000 Einwohner verübt. Während die Anzahl der rechtsmotivierten Straftaten in Berlin viele erschrecken mag – gilt die Hauptstadt doch als Metropole weltoffener Kultur –, bestätigt Brandenburg die schlimmsten Befürchtungen.

Das Bundesministerium des Inneren erklärt dazu in seiner Pressemitteilung vom 06.05.2015 zur Po­li­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik (PKS) und Po­li­tisch Mo­ti­vier­ter Kri­mi­na­li­tät (PMK) im vergangenen Jahr: „Angriffe auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte sind 2014 stark gestiegen. In diesem Zusammenhang ist es zu 203 Delikten gekommen, die überwiegend rechtsmotiviert waren. Rechtsmotivierte Täter sind für 175 dieser Angriffe verantwortlich (2013: 58). Die rechte Szene hat 2014 weiterhin gezielt versucht, die öffentliche Debatte um Zuwanderung für fremdenfeindliche Agitation zu nutzen.“

Kritik an den Zahlen

Dabei decken die offiziellen Statistiken nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit ab. Die Dunkelziffer der rechtsextremistisch motivierten Straftaten liegt weit höher. So beschreibt das Stern-Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ unter Berufung auf Berechnungen der Amadeu-Antonio-Stiftung in der Chronik über „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“, wie die tatsächlichen Kennzahlen geschönt und verschleiert werden:

„75 rechte Morde in Deutschland seit 1990 zählt die Bundesregierung nun offiziell. Eine große Diskrepanz bleibt also weiter bestehen: Die Amadeu Antonio Stiftung zählt 178 Todesopfer rechter Gewalt.“ Die tatsächlichen Zahlen lassen sich allerdings für viele offiziell nichtregistrierte Fälle nicht mehr rekonstruieren – etwa weil Ermittlungen eingestellt oder Akten vernichtet wurden.

Außerdem wurden und werden viele Straftaten nicht als politisch motiviert betrachtet – auch wenn es deutliche Anzeichen dafür gibt. So finden etwa Obdachlose als Opfergruppe rechter Gewalt kaum Beachtung, oder angezeigte Straftaten werden von den Ermittlungsbehörden heruntergespielt: In unserer schönen Dorfidylle gibt es so etwas nicht!

Fazit

Auch wenn ein Zahlenvergleich nicht die Lösung des Problems bedeutet: Es erhärtet sich der Eindruck, dass Armut und Extremismus direkt verbunden sind und sich gegenseitig begünstigen.

Jede Gewalttat ist ein Ausbruch zügelloser Wut. Jede Wut hat ihre Wurzeln. Es kann allerdings nicht allein Aufgabe der Zivilgesellschaft sein, sich dem Extremismus entgegenzustellen. Es ist Aufgabe des Staates, solide Sozial- und Bildungsstrukturen zu schaffen, lebenswerte Arbeitsverhältnisse zu fördern und jene zu unterstützen, die sich für ein friedliches und konstruktives Miteinander einsetzen – wenn die Verteilung in der Gesellschaft funktioniert, reicht es in Deutschland locker für alle Bürger und für die Hilfesuchenden noch dazu.

Eine Abwälzung dieser Aufgaben etwa auf ehrenamtliche Helfer, wie es Spitzenpolitiker gerne unter Missachtung ihrer eigenen Verantwortung fordern, ist jedoch keine Alternative zur tatkräftigen Zusammenarbeit von Behörden und Bürgern. Diese Zusammenarbeit beginnt allerdings bereits beim „Wehret den Anfängen“ – und nicht erst mit dem Aussprechen von Versammlungsverboten, wenn die Straßen bereits brennen.

Interaktive Grafik der ZEIT:
„Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“

Quellen:

https://www.facebook.com/JakobAugstein/posts/1009636229081305

http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/08/2014-08-27-asylbewerberleistungsgesetz-kabinett.html

http://www.tagesgeldvergleich.net/statistiken/zinsentwicklung-tagesgeld-monatsvergleich.html

http://www.tagesgeldvergleich.net/tagesgeldvergleich/sparbuch.html

http://blog.fefe.de/?ts=ab2591f6

http://www.sueddeutsche.de/panorama/berlin-rechtsextremist-uriniert-auf-kinder-1.2620134

https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-Regionen/Politische-Gebietsstruktur-Nav.html

http://de.statista.com/statistik/daten/studie/4275/umfrage/anteil-der-hartz-iv-empfaenger-an-der-deutschen-bevoelkerung/

http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/l%C3%A4nderranking-f%C3%BCr-rechte-gewalt-%E2%80%93-brandenburg-der-spitze-10506

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-06/rechte-gewalt-todesopfer-zahlen-brandenburg

http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/05/pks-und-pmk-2014.html

https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Essner

Flensburger Jung, zweisprachig aufgewachsen, dritter Sohn von Literaten.Karikaturist und freier Redakteur in diversen Publikationen on- und offline.

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