Wann immer über Armut gesprochen wird, stehen nicht nur kontroverse Meinungen im Raum, sondern zugleich viele verschiedene Zahlen und Fakten. So gibt es zunächst mindestens zwei Definitionen von Armut. Zum einen die „absolute Armut“, von der laut Weltbank betroffen ist, wer weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag hat – gemessen in Kaufkraftparität, die eine Vergleichbarkeit unterschiedlicher Währungsräume ermöglicht. Weltweit sind laut Bundesentwicklungsministerium etwa 700 Millionen Menschen von absoluter Armut betroffen. Für wohlhabende Länder wie Deutschland ist diese Definition nicht geeignet, sie wird aber gern genutzt, um zu bestreiten, dass Armut in Deutschland ein Problem darstellt, eben durch den Verweis auf die geringe absolute Armut.
Ein tatsächlich sinnvoller Richtwert, der EU-weit gilt und den die Bundesregierung seit 2001 anerkennt, ist die relative Armut. Demnach gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens eines Landes verfügt. Der mittlere Wert gibt, anders als der Durchschnitt, das Einkommen an, bei dem es genauso viele Menschen mit höherem wie mit niedrigerem Einkommen gibt. Laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für 2014 beträgt das Nettoäquivalenzeinkommen, das Einkommen von Personen aus unterschiedlich großen Haushalten vergleichbar macht, 1.528 Euro. Die Armutsschwelle liegt bei 917 Euro netto monatlich. Zur Messung relativer Armut gibt es in Deutschland mehrere Quellen: eben den Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes, die Erhebung „Leben in Europa“ sowie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Der Mikrozensus stellt die detaillierteste Datengrundlage dar, um Armut zu messen. Wer etwa wissen will, wie hoch die Armut in Bayern gemessen am bayerischen Nettoäquivalenzeinkommen ist – niedriger als im gesamten Bundesgebiet –, dem hilft der Mikrozensus weiter. Weil die Datengrundlage umgestellt wurde, gibt es die aktuelle „Armutsgefährdungsquote“ erst seit 2005. Für europaweite Vergleiche eignen sich am besten die in vollem Umfang seit 2008 in der EU, Norwegen und Island erhobenen Daten zur Messung von Armut und Lebensbedingungen in Europa (EU-SILC). Diese Armutsgefährdungsquote verwendet die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht. Außerdem lässt das DIW jährlich etwa 30.000 Menschen für das SOEP befragen. Der Vorteil: Das SOEP geht weiter zurück als die anderen Studien – bis 1984. Die drei Statistiken ähneln sich, die SOEP-Werte zeigen am deutlichsten den mehr oder weniger konstanten Anstieg der Armutsquote über einen längeren Zeitraum.
Alle drei Erhebungen lassen erkennen, wie unterschiedlich das Armutsrisiko in Deutschland verteilt ist. Daten aus dem Mikrozensus etwa, den der Paritätische Wohlfahrtsverband für die Berechnung der Armutsgefährdungsquote empfiehlt, zeigen: Besonders Familien mit Kindern und Alleinerziehende, Migranten, Minderjährige sowie Erwerbslose sind von Armut betroffen.
Kürzer leben, seltener wählen
Was das besonders hohe Armutsrisiko bestimmter Gruppen deutlich macht: Die unterschiedlichen Gründe für die Gefahr, zu verarmen, sind in erster Linie nicht individueller, sondern gesellschaftlicher Natur – auch wenn Armut für die Betroffenen stets gravierende persönliche Folgen hat.
Diese Folgen betreffen viele Lebensbereiche. Neben sozialer Ausgrenzung aufgrund fehlender Möglichkeiten ist dies etwa eine niedrigere Lebenserwartung. Wobei im Detail darüber gestritten wird, was Ursache und was Wirkung ist, sprich: Macht Armut krank oder macht Krankheit arm? Dass Armut oft mit geringerer Wahlbeteiligung einhergeht, zeigt ein Vergleich der Dresdner Stadtteile Loschwitz/Wachwitz und Prohlis-Süd bei der Bundestagswahl 2013. „Ökonomisch stärkere“ und „schwächere“ Milieus ergeben sich aus Informationen über Einkommen, Bildung, Beruf sowie Werte und Einstellungen zu verschiedenen Lebensbereichen. Armut stellt sicher keinen alleinigen Grund für das Erstarken der Rechtspopulisten dar: So kennzeichnet Baden-Württemberg eine geringe Armutsquote, die AfD erhielt bei den Landtagswahlen im März 15,1 Prozent. Spannend zu beobachten wird die Entwicklung der Wahlbeteiligung armer Bürger bei den Bundestagswahlen 2017 sein. Für die jüngsten Landtagswahlen liegen keine belastbaren Analysen vor.
Weitestgehend unumstritten ist heute, dass frühkindliche Bildung Wege aus der Armut ebnen kann. Die deutsche Realität aber sieht so aus: Je geringer der Einkommensstatus einer Familie, desto unwahrscheinlicher, dass ihre Kinder eine Kindertageseinrichtung besuchen.
Die Ungleichheit ist in den vergangenen Jahren auf jeden Fall gestiegen. Laut der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes verteilten sich 2013 genau 51,9 Prozent des Nettovermögens in Deutschland auf die oberen zehn Prozent der Haushalte. 1998 waren es noch 45,1 Prozent gewesen. Der Anteil der unteren 50 Prozent der Haushalte am Vermögen ist von 2,9 Prozent im Jahr 1998 auf ein Prozent im Jahr 2013 gesunken.
Tatsächlich dürfte die Ungleichheit in Deutschland noch drastischere Ausmaße haben. Denn die Datenlage hinsichtlich der Reichsten gilt als unzureichend. So zählt etwa die EVS Haushalte mit einem Monatseinkommen von mehr als 18.000 Euro nicht mit.
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