Das Lied der Straße

Armut Die Zahl der Obdachlosen ist in diesem Jahr erneut gestiegen. Die Politik schaut ungerührt darüber hinweg
Ausgabe 40/2015

Als Anja nicht mehr leben wollte, kamen die Drogen wie gerufen. „Ich dachte, Drogen bedeuten den Tod, also habe ich mich zugedröhnt.“ Doch der Tod wollte nicht kommen, stattdessen kam das Leben auf der Straße. Acht Jahre lang hat Anja in Hauseinfahrten geschlafen, im Park, dann mal wieder in einer Notunterkunft. „Viele glauben, dass man als Frau auf der Straße Freiwild ist“, sagt sie. Andere obdachlose Frauen seien mit Männern nach Hause oder auf ein Hotelzimmer gegangen, nur um einen Schlafplatz zu bekommen. „Das habe ich nie gemacht“, erzählt die heute 45-Jährige. Sie hat sich ihre Selbstachtung bewahrt, auch wenn die Alternativen oft nicht sehr würdevoll waren. „Im Winter habe ich auch mal im Klo einer U-Bahn-Station geschlafen.“

Wie viele Menschen in Deutschland insgesamt auf der Straße leben, ist unklar. Klar ist nur: Es werden immer mehr. Weil es keine amtliche Statistik gibt, beruhen die vorhandenen Zahlen auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), in der Kommunen sowie freie Träger vertreten sind. Zuletzt ging die BAGW 2012 von 284.000 wohnungslosen Menschen aus, davon 25 Prozent Frauen. Sie alle verfügen nicht über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum und leben in Notunterkünften, Heimen oder bei Freunden. Und mindestens 24.000 von ihnen schlafen als Obdachlose auf der Straße. Nachdem die Zahl der Wohnungslosen seit Mitte der 90er Jahre rückläufig war, steigt sie seit 2008 kontinuierlich an. Am kommenden Montag veröffentlicht die BAGW ihre neuen Schätzungen, zu rechnen ist erneut mit einer massiven Zunahme der Wohnungslosigkeit. Doch wie kann es sein, dass im wohlhabenden Deutschland so viele Menschen keine eigene Wohnung haben – oder gar auf der Straße schlafen? Das wollten auch die Grünen in zwei Kleinen Anfragen von der Bundesregierung wissen. „Angesichts der Komplexität von individuellen Problemlagen, die zu Wohnungslosigkeit führen, lassen sich zur Erklärung eines Anstiegs der Wohnungslosenzahlen keine eindeutigen Aussagen treffen“, heißt es lapidar in der Antwort der Regierung.

In der Vorstellung vieler Menschen stellt die Obdachlosigkeit einen selbstverschuldeten Zustand dar, schließlich sei das soziale Netz doch eng geknüpft. Dazu passt das stereotype Bild des Obdachlosen: männlich, alkoholabhängig, psychisch krank. Es ist die eine Geschichte über Wohnungslosigkeit. Sie erzählt von Schicksalsschlägen und persönlichen Problemen.

Im Teufelskreis

Auch Anjas Geschichte lässt sich so erzählen. Früher, als sie Ärger mit ihren Eltern hatte und kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag von zu Hause abgehauen ist. Und als sie mit den Drogen anfing. Doch sie ist den Drogen entkommen – und dem Teufelskreis der Obdachlosigkeit. Denn ohne Wohnung bekommt man nur schwer einen Job und ohne Job kaum eine Wohnung. Anja hat beides gefunden und ihren Hauptschulabschluss nachgeholt. Aber dennoch stand sie nach ein paar Jahren ein zweites Mal vor dem Nichts. Es ist die andere Geschichte über Wohnungslosigkeit. Und in dieser Geschichte kann es quasi jeden treffen, ohne eigenes Verschulden.

„Es gibt immer einen Zusammenhang zwischen individuellen Konstellationen und sozialen Faktoren, die zum Wohnungsverlust führen“, sagt Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW. „Aber der Grund für den massenhaften Anstieg der Wohnungslosigkeit liegt sicher zuerst in den sozialen und politischen Strukturen.“ Die BAGW macht für die steigenden Zahlen vor allem die „Verknappung von bezahlbarem Wohnraum“ sowie die „zunehmende Armut“ verantwortlich.

Denn es wird immer schwieriger, günstige Wohnungen zu finden. Während besonders in Ballungsgebieten die Mieten stetig steigen, sinkt der Bestand an Sozialwohnungen seit Jahrzehnten, von knapp zweieinhalb Millionen geförderten Wohnungen kurz nach der Jahrtausendwende auf nun weniger als anderthalb Millionen. Besonders in teuren Metropolen hat das fatale Konsequenzen: Die unteren Einkommensgruppen müssen mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufbringen. Arme Familien rutschen damit unter das Hartz-IV-Niveau.

Das hat auch Anja zu spüren bekommen. Die gebürtige Frankfurterin ging „der Liebe wegen“ nach Düsseldorf, sie hatte dort Arbeit und eine Wohnung. Doch die Beziehung scheiterte, Anja kam über Umwege in ihre alte Heimat zurück. Hier fand sie zwar eine Arbeit, aber keine Wohnung. Vorübergehend kam sie bei Freunden unter, ihr drohte die erneute Obdachlosigkeit. „Ich wollte auf keinen Fall dorthin zurück.“

Seit knapp einem halben Jahr wohnt sie in einem zwölf Quadratmeter großen Wohnwagen. Ein kleiner Fernseher thront dort auf dem Tisch, darüber hängt ein Ventilator für die heißen Tage. „Anfangs war ich skeptisch. Ich dachte an einen Trailer-Park wie in den USA.“ Doch hier im Frankfurter Westen erinnert nichts an die Wohnwagensiedlungen nach amerikanischem Vorbild. Auf dem Hof hinter der katholischen Kirche stehen unter riesigen Kastanienbäumen zwei weiße Wohnwagen älteren Modells. Anja fühlt sich inzwischen so wohl, dass sie „alles daransetzen“ möchte, einen eigenen Wohnwagen zu bekommen. Denn ihr derzeitiges Zuhause ist nur eines auf Zeit.

Um wohnungslosen Menschen eine vorübergehende Unterkunft zu bieten und sie in ein geregeltes Leben zu integrieren, hat die Caritas im gesamten Stadtgebiet 28 alte Wohnwagen aufgestellt. „Wohnungslosigkeit trifft mittlerweile die unterschiedlichsten Menschen“, berichtet die Leiterin der Wohnungslosenhilfe der Caritas Frankfurt, Evelyne Becker. So leben zunehmend mehr Menschen in den Wohnwagen, die Arbeit haben, aber keine eigene Bleibe. Auch Anja ging immer mal wieder prekären Beschäftigungen nach, arbeitete als Servicekraft in einem Casino, später bei einem Sicherheitsdienst. „Ungesicherte Arbeitsverhältnisse und Niedriglöhne führen zur Beschleunigung von Armut – und damit auch potenziell in die Wohnungslosigkeit“, sagt Evelyne Becker.

Neue Herkulesaufgabe

Die BAGW macht für die Zunahme der Wohnungslosigkeit unter anderem „schwerwiegende sozialpolitische Fehlentscheidungen bei Hartz IV“ verantwortlich. In der Kritik stehen zu niedrige Mietobergrenzen, strenge Sanktionen für junge Menschen sowie Kürzungen bei den Kosten der Unterkunft. Eigentlich wollte die Große Koalition diese Sanktionspolitik entschärfen – doch das scheiterte an der bayrischen CSU.

Zwar seien die Städte und Gemeinden trotz regionaler Unterschiede „in der Notversorgung insgesamt recht gut aufgestellt“, sagt Specht. „Doch um die steigende Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, bedarf es einer nationale Strategie. Der Bund muss sich die Kompetenz für den sozialen Wohnungsbau zurückholen und mehr bauen.“ Denn die Kommunen stehen durch die verstärkte Armutszuwanderung aus Osteuropa sowie die hohen Flüchtlingszahlen längst vor weiteren Herkulesaufgaben. Eine offizielle Wohnungslosen-Statistik hält die Koalition trotzdem nicht für nötig.

Auch auf EU-Ebene gibt es keine amtlichen Zahlen – obwohl die Wohnungslosigkeit in fast allen europäischen Staaten rapide zunimmt. Besonders Frauen sind davon in hohem Maße betroffen. Aus Scham und Angst vor Gewalt ziehen sie sich so weit wie möglich zurück und nehmen Hilfeangebote nur sporadisch an. Anja kann inzwischen über ihre Geschichte reden. Sie sagt: „Ich habe die Zeit auf der Straße noch nicht aufgearbeitet. Ich umgehe das lieber.“ So wie auch die Politik lieber wegschaut, wenn es um den Rand der Gesellschaft geht.

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