Dem Sterben nicht zuschauen

Mittelmeer Fast täglich ertrinken Menschen, doch die Rettungsschiffe dürfen nicht auslaufen. Dagegen hilft nur konkreter Aktivismus. Und eine Solidarität der Städte und Regionen
Zwei Gerettete auf der „Open Arms“
Zwei Gerettete auf der „Open Arms“

Foto: Olmo Calvo/AFP/Getty Images

Während tagtäglich Geflüchtete auf dem Mittelmeer ertrinken, wird die Arbeit der Retter blockiert. Seit Tagen werden in Malta zivile Rettungsschiffe sowie ein Aufklärungsflugzeug festgehalten – unter ihnen das deutsche Boot Lifeline, dessen Kapitän sich derzeit gar vor einem maltesischen Gericht verantworten muss.

2.300 Kilometer weiter nördlich wird derweil darüber verhandelt, in welchem Maß die Abschottungspolitik verschärft wird. Nach wochenlangem Streit zwischen den Scharfmachern der bayerischen CSU und der Merkel-CDU einigten sich die Schwesterparteien schließlich auf den sogenannten „Asylkompromiss“. Mit dem sprachlich wie rechtlich fragwürdigen Konstrukt der „fiktiven Nichteinreise“ sollen Flüchtlinge, für die nach der ebenso umstrittenen Dublin-Regel ein anderes EU-Land zuständig ist, an der deutsch-österreichischen Grenze in sogenannten „Transinzentren“ festgehalten werden.

Allerdings dürfen die nicht mehr so heißen. Denn bereits 2015 bezeichnete der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel „Transitzonen“ alsHaftzonen“. Und so inszenierte sich die Sozialdemokraten nun als Retter des Rechtsstaates und der Entrechteten. Am Donnerstag verkündete die Partei auf Twitter, sie habe sich im Koalitionsausschuss durchgesetzt: „Keine einseitigen Zurückweisungen an der Grenze, keine geschlossenen Lager, schnellere Verfahren. Ein Einwanderungsgesetz kommt noch 2018.“

Doch bei genauerem Hinsehen bleibt von den angeblichen Erfolgen nicht viel übrig. Das zeigte etwa die Aussage von Carsten Schneider, Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion, der findet, die Zentren seien „keine geschlossenen Einrichtungen“, sondern „offen“. Die Flüchtlinge könnten ja jederzeit dorthin gehen, wo sie herkommen. Und das Einwanderungsgesetz? Steht bereits im Koalitionsvertrag. So kommentierte der Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl, der an der Universität Kassel zum EU-Grenzregime forscht, denn auf Twitter unverkennbar ironisch: „Insgesamt sehe ich in dem Papier keine Abkehr von der Abschottungslogik. Die Verfahren werden schneller werden und sehr wahrscheinlich zu Lasten des Rechtsschutzes von Flüchtlingen. Danke SPD.“

Obwohl von der Transitregelung nur etwa 150 pro Monat betroffen sein sollen, scheint die Botschaft der Symbolpolitik klar: Deutschland kommt der Orbanisierung wieder ein Stück näher. Abschottungslager und eine Kasernierung von Schutzsuchenden wurden ja bereits auf dem EU-Gipfel Ende Juni beschlossen. Während sich die Grünen ob dieser Entwicklungen zwar „wütend“ (Göring-Eckardt) zeigen und die Linke von einemPakt der Menschenfeindlichkeit“ (Riexinger) spricht, wirkt die Opposition so wie viele engagierte Menschen derzeit eher ohnmächtig.

Doch mit dieser Ohnmacht wollen sich die zivilen Seenotretter nicht abfinden. „Wir werden so schnell wie möglich ein neues Schiff besorgen, um Menschenleben zu retten“, sagt Axel Steier, der vor einigen Jahren die „Mission Lifeline“ in Dresden mitgegründet hat. „Wir wollen so die Handlungsmacht zurückgewinnen und Druck auf die Politik ausüben, das Sterben zu beenden.“ Die Rettung eines Menschenlebens durch zivile Seenotretter koste lediglich 100 Euro, berichtet der 42-Jährige.

Für die Gerichtskosten der Lifeline in Malta hatte der Moderator Jan Böhmermann bereits einen Spendenaufruf gestartet und innerhalb weniger Tage 170.000 Euro eingeworben. Für ein neues Schiff, das die Lifeline gemeinsam mit anderen Rettungsorganisationen betreiben will, brauchen sie insgesamt 300.000 Euro. „Davon fehlt uns noch etwa die Hälfte“, sagt Axel Steier. Um diesem Ziel näher zu kommen und eine breitere Öffentlichkeit zu erzeugen, ruft die Lifeline gemeinsam mit drei Dutzend anderen Organisationen am Samstag in mindestens zehn Deutschen Städten zu Demonstrationen auf – unter anderem in Berlin, Frankfurt, München, Leipzig, Bremen und Hannover.

Die Aktion läuft unter dem Namen „Seebrücke“: Symbolische Seebrücken sollen überall nach Europa hineinreichen. „Wir wollen, dass sich Städte solidarisch erklären und als sichere Häfen Flüchtlinge aufnehmen“, sagt Axel Steier. So wie bereits Berlin und Neapel erklärten, zur Aufnahme von Flüchtlinge bereit zu sein. Und so wie Barcelona dies schon umgesetzt hat: Vor einigen Tagen nahm die katalanische Stadt das Rettungsschiff „Open Arms“ samt den 60 an Bord befindlichen Menschen auf.

Neben konkretem Aktivismus könnte die Solidarität der Städte und Regionen also ein probates Mittel sein – im Kampf gegen die Abschottung der Scharfmacher. Und um die Handlungsmacht zurückzugewinnen.

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