„Der Staat ist jetzt erpressbar“

Interview Die Wohnungsnot kann noch viel drastischer werden als heute, sagt der Ökonom Matthias Günther
Ausgabe 47/2017

Der Staat hat sich im Laufe der vergangenen 30 Jahre nicht nur weitgehend aus dem sozialen Wohnungsbau verabschiedet, sondern zugleich einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen. Die Folgen werden jeden Tag offensichtlicher: Immer mehr Menschen konkurrieren hierzulande um bezahlbare Wohnungen, vor allem in den Städten. Für Geringverdiener wird das Wohnen dabei zur Existenzfrage.

der Freitag: Herr Günther, die Zahl der Wohnungslosen steigt seit Jahren, auch immer mehr Geflüchtete und EU-Migranten werden wohnungslos. Verschärft die Zuwanderung die Konkurrenz um günstigen Wohnraum?

Matthias Günther: Es gibt in Deutschland viele einkommensarme Menschen, die eine bezahlbare Wohnung suchen. Obwohl die Zahl der Erwerbstätigen so hoch ist wie nie, nehmen sowohl die Ungleichverteilung als auch die relative Zahl der armen Menschen zu. Je mehr Menschen um Wohnraum konkurrieren, desto knapper und teurer wird er. 400.000 wohnungslose Flüchtlinge sind da nur ein kleiner Teil, laut unseren Berechnungen müsste der Sozialwohnungsbestand in Deutschland langfristig um vier Millionen Wohnungen aufgestockt werden. Die Diskussion wird von den Kosten der Zuwanderung dominiert. Die positiven Wirkungen werden kaum erwähnt: Etwa ein Drittel des Wirtschaftswachstums 2015 geht auf die Flüchtlingszuwanderung zurück. Zuwanderer und einheimische Arme gegeneinander auszuspielen, schafft Probleme und schürt Ressentiments.

Dennoch suchen viele verschiedene Menschen eine bezahlbare Wohnung. Wer soll da zuerst zum Zuge kommen?

Es gibt vielerorts objektive Vergabekriterien: Wie lange leben Menschen in der jeweiligen Stadt, wie ist ihre Familiensituation. Da stehen etwa Alleinerziehende oben auf der Prioritätenliste, egal woher sie kommen. Studierende hingegen stehen oft weit unten, weil sie meist noch nicht lange in der Stadt sind. Diese Kriterien müssen transparenter gemacht werden, auch um Ressentiments zu begegnen. Schon zur Zeit der Spätaussiedler in den 1990ern hieß es, diejenigen, die neu kommen, würden bevorzugt. Das stimmte damals so wenig wie heute, vor allem wenn man sieht, wie viele Flüchtlinge noch in Übergangsunterkünften leben, obwohl sie längst Wohnungen hätten beziehen sollen. Das führt bei diesen Menschen natürlich auch zu Frust.

Zur Person

Matthias Günther, 57, ist Diplom-Ökonom und leitet seit 2006 das Pestel-Institut in Hannover. Die Themen Wohnen, Nachhaltigkeit und Demografie gehören zu den Forschungsschwerpunkten des Instituts

Foto: Presse

Wie groß ist die Wohnungsnot in Deutschland wirklich?

Besonders in Städten haben wir eine extreme Wohnungsknappheit. Wie in einer Marktwirtschaft üblich, steigen dann die Mieten. Viele Haushalte zahlen heute schon 40 oder 50 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen, das ist definitiv eine Überlastung. Allerdings ist die Belastungsgrenze rein technisch noch lange nicht erreicht, dazu muss man nur nach London oder Paris schauen. Dort sieht man, wie weit die Wohnkostenbelastung erhöht werden kann. Wohnen müssen die Leute immer.

Wird so der gesellschaftliche Zusammenhalt aufs Spiel gesetzt?

Ungleichheit schafft den Nährboden für Krawall. Die Ungleichverteilung ist nicht nur bei den Einkommen groß, sondern auch bei den Wohnungen. Es muss politisch entschieden werden, wie viel Wohnen soll den Schwächsten zukommen, und dafür muss der Staat dann sorgen.

Hat sich der Staat nicht längst aus dem Wohnungssektor zurückgezogen?

Das hat Ende der 1980er begonnen. Im marktliberalen Zeitgeist wurden weitreichende Entscheidungen getroffen. Dazu zählt die Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit. 1987 gab es allein in Westdeutschland rund vier Millionen Sozialwohnungen, heute sind es in der gesamten Republik nur gut 1,3 Millionen. Jedes Jahr fallen rund 40.000 Sozialwohnungen mehr aus der Bindung, als neue dazukommen. Damals wurde von der Objektförderung auf Subjektförderung umgestellt, also vom Sozialwohnungsbau zum individuellen Wohngeld. Das hat sich aber nur an die untersten Schichten gerichtet, und auch dort oft unzureichend. Der Anspruch, Wohnungen für breite Bevölkerungsschichten bereitzustellen, ist völlig verschwunden.

Und gleichzeitig steigt die Zahl der Wohnungslosen seit Jahren.

Das Versprechen, denjenigen eine Wohnung zu geben, die dringend eine brauchen, fußt darauf, dass der Staat über Wohnungen verfügt. Die Privatisierung von Wohnungsbeständen des Bundes, der Länder und vieler Kommunen hat die wohnungspolitischen Handlungsmöglichkeiten vielerorts massiv reduziert. Der Staat ist dann in Notsituationen erpressbar, wie etwa 2015, als Wohncontainer für bis zu 4.500 Euro je Quadratmeter verkauft wurden.

In Städten wie Frankfurt oder Berlin hat es in den letzten Jahren viel Zuzug gegeben. Ist das nicht der eigentliche Grund für die Wohnungsnot?

Das hat entscheidend dazu beigetragen. Meist hatten die politischen Entscheidungen, die zu diesem Zuzug geführt haben, nichts mit dem Wohnungssektor zu tun. Viele Ausbildungsberufe wurden akademisiert, die Hochschulen sind in den Städten. Auch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes trägt dazu bei, dass Menschen dauerhaft in der Stadt zur Miete wohnen, um mobil und flexibel zu bleiben. Unter Rot-Grün wurde der größte Niedriglohnsektor Europas geschaffen. Viele brauchen deshalb zwei Jobs und verdienen trotzdem wenig. Auch das führt dazu, dass man in der Stadt zur Miete wohnen muss. Der Niedriglohnsektor hat auch viel mit der Zuwanderung aus der EU zu tun. Für Menschen aus Ost- und Südeuropa ist ein Job im Niedriglohnsektor in Deutschland immer noch weit besser als keine Arbeit zu Hause.

In strukturschwachen Regionen steht Wohnraum leer. Kann man Wohnungslose oder Flüchtlinge nicht dort unterbringen?

Wohnungslose in ländliche Regionen zu verfrachten ist zynisch. Zuwanderer könnte man eventuell für die Zeit ihrer Sprachkurse oder Ausbildung in Regionen mit wenig angespannten Wohnungsmärkten unterbringen, die dann aber mehr gefördert werden müssten. So wenig, wie die Zuwanderung aber Auslöser für diese Probleme ist, so wenig lassen sie sich alleine dadurch lösen.

Wie lässt sich der Wohnungsnot denn begegnen?

Bis mindestens 2025 müssen pro Jahr 400.000 vor allem bezahlbare Wohnungen gebaut werden. Dafür muss sich der Bund die Zuständigkeit für den Wohnungsbau von den Ländern zurückholen. Um das Bauen für private Investoren attraktiver zu machen, muss die steuerliche Regelabschreibung von zwei auf drei Prozent angehoben werden. Aber der Zuzugsdruck auf die Städte kann nur durch eine Erhöhung der Attraktivität der Umlandkommunen und des ländlichen Raumes gelingen, dafür braucht es Infrastrukturprojekte und bessere Mobilitätskonzepte.

Ist Umverteilung eine Lösung?

Langfristig müssen wir vorhandene Wohnfläche umverteilen, entweder durch die vom Umweltbundesamt vorgeschlagene progressive Wohnflächensteuer oder durch positive Anreize für einen Umzug in kleinere Wohnungen, etwa für ältere, alleinstehende Menschen. Derzeit werden diese Prozesse dem Markt überlassen. Damit werden lediglich die Ärmeren ökonomisch gezwungen, sich etwa in WGs zusammenzufinden. Dem entgegen wäre ein Vorschlag, Wohneigentum für Geringverdiener zu fördern. Damit wären sie dauerhaft vor den Widrigkeiten des Mietmarktes geschützt.

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