„Die Unsicherheit wächst“

Interview Statt gegen die Armut vorzugehen, wird sie hierzulande verschleiert. Der Sozialforscher Stefan Sell weiß, wie man Ungleichheit bekämpft
Ausgabe 35/2016

Weite Teile der unteren Mittelschicht geraten trotz Arbeit in prekäre Verhältnisse. Das heißt, die relative Armut droht sich auf die Hälfte der Bevölkerung auszuweiten. Wie kann man dem beikommen?

der Freitag: Herr Sell, seit Jahren wird über Armut gestritten. Wie groß ist Armut in Deutschland nun wirklich?

Stefan Sell: Fakt ist, dass sich die Zahl der Armen insgesamt auf hohem Niveau bewegt, während das Ausmaß der Ungleichheit zunimmt. Allerdings wird derzeit eher versucht, Armut wegzudefinieren, statt sie zu bekämpfen. Armut ist übrigens nur Teil zunehmender Ungleichheit. Sie ist das übergeordnete Problem.

Wird die Armut größer, wenn die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht?

Wir können ein über Jahre konstantes doppeltes „Zehn-Prozent-Dilemma“ ausmachen. Die untersten zehn Prozent leben in harter Einkommensarmut und sind oft auf Dauer abgekoppelt. Bei den obersten zehn Prozent steigen Einkommen und Vermögen kontinuierlich. Doch das war schon in den 80er Jahren so.

Was ist mit der Mitte?

Mein Problem ist die Welt dazwischen, also die unteren 40 Prozent oberhalb der harten Einkommensarmut, die sogenannten Niedrigeinkommensbezieher. Die tauchen meist nicht in den Armutsquoten auf, weil sie knapp darüber liegen. Für diese Menschen nehmen seit Mitte der 90er Jahre aber Prekarität und Unsicherheit zu. Dabei leisten gerade sie viel für die Gesellschaft, sie gehen oft anstrengenden Arbeiten nach, etwa als Erzieherin, angelernter Arbeiter oder in der Pflege. Dennoch hat sich ihr Zustand stetig verschlechtert.

Wie konnte es so weit kommen?

Die Polarisierung der Ungleichheit hängt mit der Entwicklung auf den Arbeitsmärkten zusammen. Bis Anfang der 1990er waren diese relativ stabil, selbst da, wo heute Lohndumping an der Tagesordnung ist – etwa im Einzelhandel –, gab es tarifvertragliche Regeln. Der Deregulierungsschub der 1990er hat zu einem gewaltigen Ausbau des Niedriglohnsektors geführt.

Zur Person

Stefan Sell, 52, ist Professor der FH Koblenz und einer der angesehensten deutschen Arbeitsmarkt- und Armutsforscher. Er begann seine Berufskarriere 1981 mit einer Ausbildung zum Krankenpfleger

Foto: Müller-Stauffenberg/Imago

Was bedeutet denn heute arm? Da gibt’s ja viele Definitionen?

Die Abwehrreaktionen gegen die Themen Armut und Ungleichheit sind teils aggressiv. Das zeigt: Diese Themen haben gesellschaftliche Sprengkraft, weil alte Gedankengebäude und Machtstrukturen in Frage gestellt werden. Deshalb macht etwa die FAZ die Rubrik „Arm und Reich“ und behauptet, Ungleichheit sei nicht so schlimm. Sogar Sozialministerin Nahles sympathisiert mit absoluten Armutsdefinitionen ...

… nach denen arm ist, wer von weniger als 1,90 Dollar pro Tag lebt.

Das bezeichne ich als „veterinärmedizinische Armutsdefinition“, weil sie die Schwelle definiert, ab der man in Lebensgefahr ist. Obwohl weltweit fast eine Milliarde Menschen betroffen sind, können wir hier mit dieser Definition nicht arbeiten.

Warum nicht?

Davon würden hierzulande nicht mal Obdachlose erfasst. Seit Jahrzehnten haben wir uns deshalb auf eine relative Armutsdefinition geeinigt, die EU-weit gilt. Demnach ist armutsgefährdet, wer über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt.

Sind die zahlreichen Warnungen vor Armut also Alarmismus?

Vor dieser Schlussfolgerung warne ich. Bestimmte Leute werden nicht erfasst, selbst in der Definition von Einkommensarmut werden etwa Heimbewohner nicht gezählt, obwohl sie faktisch in Armut leben.

Wie konnte das reiche Deutschland so in Schieflage kommen?

Die Wiedervereinigung war vor allem über Sozialversicherungsbeiträge finanziert worden. Das hat die Kapitalseite schnell als Problem explodierender Lohnnebenkosten thematisiert. In den 1990ern begann daraufhin eine Diskussion über den „Standort Deutschland“, in deren Mittelpunkt der angeblich nicht mehr bezahl-bare Faktor Arbeit stand. Das hat gewaltigen Lohndruck auf die Gewerkschaften ausgeübt. Der Treppenwitz der Geschichte ist, dass die Gewerkschaften tatsächlich 15 Jahre lang weitgehend Lohnzurückhaltung übten.

Welche Rolle spielt die Agenda 2010?

In Teilen der Linken hat sich ja der Mythos aufgebaut, nur durch die Agenda 2010 wären wir in diese Malaise reingerutscht. Aber das stimmt nicht. Hartz IV hat die Entwicklung der Deregulierung nur weiter bestärkt.

Warum ist die neoliberale Idee des Deregulierens so stark?

Das hat viel mit Globalisierung zu tun. Die hat seit den 80er Jahren stark zugenommen. Dazu kam der Aufstieg der Schwellenländer und der Wegfall des Ostblocks als Systemkonkurrenz. Das hat dem kapitalistischen System einen enormen Schub gegeben, die Deregulierung hat sich mit enormer Kraft ausgebreitet. Nationalstaaten haben fast keine Instrumente mehr, dem etwas entgegenzusetzen.

Auch linker Systemkritik unverdächtige Institutionen wie die OECD oder die Weltbank sprechen heute über Ungleichheit. Gibt das Hoffnung auf eine neue Entwicklung?

Zunächst ist Ungleichheit in den Wirtschaftswissenschaften nichts per se Schlechtes, ein gewisses Maß wird sogar als notwendige Voraussetzung für Wirtschaftswachstum betrachtet. Aber selbst Institutionen aus dem Herzen des Neoliberalismus nehmen inzwischen sehr wohl zur Kenntnis, dass die Ungleichheit zu groß ist und dass dies auch aus ökonomischer Sicht zu gesellschaftlichen Kollateralschäden führt: Das Wirtschaftswachstum fällt niedriger aus, ebenso die Investitionen. Selbst die herrschende Ökonomie erkennt also, dass wir weniger Ungleichheit brauchen.

Warum ist es dennoch so schwierig, Umverteilung durchzusetzen, etwa durch höhere Steuern?

Gegen eine Erhöhung der Spitzensteuer steht der Widerstand derjenigen, denen man etwas wegnehmen müsste. Steuererhöhungen sind heute eher ein Tabu, weil auch der Mittelstand befürchtet, weiter belastet zu werden. Aber das Problem greift tiefer: Auch in der eher links orientierten Debatte gibt es eine Fokussierung auf Umverteilung im reduzierten Sinne, nämlich, Millionäre und Vermögende mehr zu belasten.

Was ist daran das Problem?

Es ist verständlich, die Vermögenden zu belasten, aber auch gefährlich, denn die dringend notwendigen Ausgaben können wir dadurch nie stemmen. Das ist ein Mengenproblem. Das Kapital kann sich einer nationalstaatlichen Vorgehensweise entziehen. Außerdem liegt das meiste Vermögen nicht in Form von Geld vor, sondern als Unternehmensbeteiligung. Wenn wir also nicht zum Mittel der Enteignung greifen wollen, werden nur durch Besteuerung von Reichtum nicht genug Mittel frei.

Wie denn dann?

Die Vermögenden müssen stärker herangezogen werden und wir brauchen neue Finanzierungsquellen. Wir haben eine steigende Unzufriedenheit der 40 Prozent, die Niedrigeinkommen beziehen. Die Menge der Erwerbsarbeit ändert sich – und entwickelt ihre Formen immer stärker hin zu nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Darauf muss die Gesellschaft eine Antwort finden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden