Eine deutsche Stadt

Hanau Was ist das für ein Ort, an dem ein Rechtsterrorist zehn Menschen erschießt?

Im März veranstaltet die Stadt Hanau zum wiederholten Male ihre „Internationale Woche gegen Rassismus“. Die Konzerte und Vorträge, Diskussionen und Workshops sind schon lange geplant – doch niemand konnte ahnen, welch neue, tragische Aktualität sie plötzlich bekommen würden. Am Mittwochabend hat ein Rassist in Hanau gezielt mehrere als migrantisch gelesene Menschen erschossen, der Attentäter selbst soll aus Hanau kommen. Seither ist die hessische Stadt zum neuen Symbol des deutschen Rechtsterrorismus geworden.

Ob BBC, CNN oder der Guradian – alle Welt redet nun über Hanau. Und alle wollen wissen: Warum ausgerechnet hier? Was ist das für eine Stadt, in der solch ein Massaker passiert?

Keine 15 Kilometer östlich von Frankfurt liegt die „Brüder-Grimm-Stadt“, die trotz ihres Beinamens eher von ihrer Industrie lebt denn von Dichtern und Denkern. Hier ist das verarbeitende Gewerbe zuhause, es wird Medizintechnik hergestellt, es werden Metalle verarbeitet und Reifen produziert. Knapp 100.000 Menschen leben in Hanau. Im Durchschnitt verdienen sie laut Einkommenssteuerstatistik zwar etwas weniger (35.067 Euro) als Beschäftigte in Hessen (40.779) – die Arbeitslosenquote lag in Hanau mit 4,3 Prozent zuletzt aber sowohl unter dem hessischen (4,7%) als auch unter dem Bundesdurchschnitt (5,3%). Was aber auffällt: In Hanau arbeiten deutlich mehr Geringqualifizierte als anderswo. So hatten 2018 immerhin 18 Prozent der Beschäftigten keinen beruflichen Ausbildungsabschluss – in Hessen waren es nur 13,3 Prozent. Vor einigen Jahren kam eine von der Stadt in Auftrag gegebene Studie bereits zu dem Schluss, dass in Hanau überdurchschnittlich viele Menschen mit niedrigem Einkommen leben.

Ansonsten ist die Stadt so wie ihre Nachbarinnen Offenbach und Frankfurt sehr divers. Einst war Hanau einer der größten Stützpunkte der US-Armee in Deutschland. Heute hat gut ein Viertel der Bevölkerung Hanaus keinen deutschen Pass – im bundesweiten Vergleich liegt der Ausländer*innenanteil nur bei etwa 12 Prozent.

„Mittlerweile passiert es täglich, dass Menschen attackiert oder angegriffen werden“

Selma Yilmaz-Ilkhan jedenfalls lebt gern in Hanau. Die 35-Jährige ist Vorsitzende des städtischen Ausländerbeirats, sie ist hier geboren und hat in Gießen und London Politik- und Sozialwissenschaften studiert. „In Hanau leben Menschen aus 150 Nationen – und das Zusammenleben funktioniert gut, deshalb waren wir alle hier auch so unglaublich schockiert.“

Allerdings berichtet Yilmaz-Ilkhan auch von rassistischen Übergriffen. „Mittlerweile passiert es täglich, dass Menschen attackiert oder angegriffen werden.“ Hat Hanau also ein Problem mit Rechts?

Im Stadtparlament ist die AfD bisher erstaunlicherweise nicht vertreten – allerdings haben die Republikaner dort fünf Sitze. Im hessischen Verfassungsschutzbericht von 2018 taucht Hanau mehrfach auf – etwa im Zusammenhang mit sogenannten „Streifgängen“ von NPD-Aktivisten. Thema sind auch die Brandanschläge auf linke Hausprojekte in Hanau und Frankfurt, die Ende 2018 ihren Anfang nahmen. Der Verdächtige wurde im Dezember 2018 von der Polizei geschnappt, kam wieder auf freien Fuß, verübte im vergangenen Jahr erneut Brandanschläge – und wurde erneut verhaftet. Die linke Szene ging seinerzeit von einem „rechten Brandstifter“ aus.

Systematische rechte Umtriebe allerdings fanden bisher eher vor den Stadttoren statt: Neonazis aus dem Main-Kinzig-Kreis, zu dem Hanau gehört, sind bundesweit vernetzt. Mehrfach erhielt der ehemalige SPD-Landrat Erich Pipa aufgrund seines Engagement für Geflüchtete Morddrohungen. Im Juli 2019 schoss ein Rassist in Wächtersbach unweit von Hanau auf einen Eriträer. Und schließlich konnte die NPD im nahe gelegenen Büdingen mehrfach außergewöhnlich hohe Stimmengewinne einfahren. Dort veranstaltet die neonazistische Partei auch gerne überregionale Treffen und Parteitage.

Hanau ist eine normale deutsche Stadt

Immer wieder stellten sich aber auch Demonstrant*innen den Rechten entgegen, auf den Mordversuch in Wächtersbach folgten Solidaritätskundgebungen – auch in Hanau. Eine Sprecherin der Stadt sagte dem Freitag: „Wir stehen hier geschlossen gegen Rassismus. Die Stadt hat schon immer versucht, sich mit allen Kräften gegen Rechts zu wehren.“ Es gibt die Woche gegen Rassismus, Programme zur Förderung von Vielfalt und Diversität. Nun veranstaltet die Stadt einen Tag nach dem rechten Terror eine Mahnwache. „Da wird sicher noch vieles folgen“, sagt die Sprecherin. Sie kann kaum glauben, „warum das ausgerechnet hier passiert“.

Auch Selma Yilmaz-Ilkhan findet lobende Worte für ihre Stadt: „Die Politik engagiert sich hier schon gegen Rassismus.“ Allerdings fordert die Vorsitzende des Ausländerbeirats mehr echte Partizipation – denn wie vielerorts ist die Stadtverwaltung noch hauptsächlich weiß. „Wir brauchen auch mehr politische Bildung an Schulen und einen Rassismusbeauftragten.“ Inzwischen finde nämlich eine „Normalisierung von Rassismus und rechter Gewalt“ statt – nicht nur in Hanau.

Die Sprecherin der Stadt sagt schließlich noch: „Wir haben hier nicht mehr Probleme mit Rechten als in anderen Städten auch.“ Vielleicht ist genau das das Problem: Hanau ist eine normale deutsche Stadt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden