Nun beginnen sehr bald „unsere“ 20er Jahre, deren Vorgänger aus dem letzten Jahrhundert sich als so berühmt und berüchtigt und exzessiv und erschütternd eingeprägt haben, in denen in Deutschland die Saat gelegt wurde, welche, als sie aufging, dann Republik und Demokratie zerbröselte und vor deren Wiederholung heute einige im Spiegelbild der Zeitgeschichte erneut warnen. Denn es begann ja damit, dass eine kleine, rechtsradikale Splitterpartei von München aus Antisemitismus und Fremdenhass schürte und plötzlich massiv Wahlen gewann, es endete im Nationalsozialismus und mit 80 Millionen Toten. Was bedeutet es, wenn am Ende der nun beginnenden 20er Jahre des 21. Jahrhunderts wirklich alle gestorben sein werden, die letzten Opfer und die Täter, die den Holocaust überlebt haben und die ihn zu verantworten haben, und mit den Zeitzeugen dann auch die erzählte Erinnerung und Erfahrung fehlen?
Gerade in diesem Augenblick meldet sich eine neue Generation zu Wort, die manchmal „Greta“ genannt wird und die noch viele andere Namen tragen wird, aber die sich womöglich zum ersten Mal nach 68 anschickt, nach Auschwitz einen neuen oder zumindest weiteren moralischen Kompass für sich zu installieren. Mit dem menschengemachten Klimawandel und dem damit zusammenhängenden möglichen Ende der Menschheit ist ein Moment gekommen, der für ein zehn- oder zwölfjähriges Kind das Dritte Reich in noch weitere Ferne rücken lässt, das sicher nicht von einem „Vogelschiss“ spricht und auch nicht von „just another fuckery in human history“, wie kürzlich Roger Hallam von Extinction Rebellion, aber vielleicht sagt, dass das wirklich sehr schrecklich war, aber die globale Erderwärmung doch sehr viel dringender ist. Und das angesichts der Klimakrise seinen Eltern dasselbe vorhält wie damals die 68er: Ihr habt nichts getan, ihr habt wissend hingeschaut und es hingenommen. Ihr tragt alle eine Mitschuld.
Eine Sekunde nachdenken
„Erinnerung ist etwas, das sich täglich neu aus dem politischen Diskurs ergibt. Es geht bei diesem Pilotprojekt nicht darum, unser Thema wieder spannend oder interessant machen zu wollen, sondern darum, es ganz anders zu aktivieren und zu akzentualisieren.“ Mirjam Zadoff steht in dem eleganten weißen Würfelhaus des NS-Dokumentationszentrums München, das die junge Historikerin und Direktorin seit eineinhalb Jahren leitet und in dem gerade etwas Revolutionäres geschieht. Das Zentrum befindet sich an dem Ort der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP, und seit seiner Eröffnung 2015 ist an diesem „Lern- und Erinnerungsort“ eine hervorragende Dauerausstellung zu besichtigen. Man geht in dieses Haus hinein wie in ein Geschichtsbuch, in dem wissenschaftlich auf höchstem Niveau die Verbrechen der NS-Diktatur aufgeblättert werden und man sich mit ihren Ursachen, Ausprägungen und Folgen auseinandersetzt, auch um zu ergründen, wie der Nationalsozialismus sich gerade in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, entwickeln konnte.
Gemeinsam mit dem Kurator Nicolaus Schafhausen, der im letzten Jahr seinen Direktorenposten an der Kunsthalle Wien aufgrund der Rechtspopulisten in der österreichischen Regierung verließ, hat Zadoff nun fast 50 internationale Künstler*innen eingeladen, sich vor dem Hintergrund der historischen Ausstellung mit der Deutung von Vergangenheit und vor allem der Gegenwart zu beschäftigen. Unter dem Titel Tell me about yesterday tomorrow haben sie eine Ausstellung in der Ausstellung installiert und so einen Ort erschaffen, den es noch niemals zuvor gegeben hat. Zeitgenössische Kunstwerke stehen seit letzter Woche auf sieben Stockwerken neben den unverändert gebliebenen, sachlichen Dokumentationen der Dauerausstellung. Die Kunst klemmt nun zwischen Wissenschaft. Sie ergänzt sie, stört sie manchmal, sie machen etwas, das Kunst und Wissenschaft sehr selten tun: Sie sprechen miteinander. Natürlich entsteht dabei auch Verwirrung.
Direkt am Eingang etwa hängt nun rechter Hand ein großformatiges Gemälde des 1965 in Ontario geborenen Künstlers Kent Monkman. Auf dem Bild sieht man, wie sich Monkmans Alter Ego, hier langhaarig, sehr muskulös, in Frauenkleidern und High Heels, mit zwei indigenen Kindern eine Felsklippe hochziehen lässt, um sie (so die imaginative Rahmung) vor der sinnbildlichen Siedlerflut in die Hände ihrer Ahnen zu retten. Schulklassenkinder und andere Besucher*innen werden zu der Malerei vielleicht „Indianerbild“ sagen, dann ihre Jacken abgeben, sich noch eine Sekunde lang fragen, was das wohl mit Hitler zu tun hat, und in die Ausstellung gehen. Vielleicht werden sie auch ganz anders darüber nachdenken. Wenn sie am Ende wieder an dem Bild vorbei- und aus der Ausstellung herauslaufen und dann eine Ahnung davon haben, warum die Indianer mit den High Heels und der nordamerikanischen Kolonialgeschichte genau hier hängen, dann wird diese Ausstellung nicht nur ein großer Erfolg, sondern wird auch etwas bewegen.
In diesem Haus war es bisher immer still. Die Dauerausstellung kam ohne Sound aus, die grauen Räume spärlich beleuchtet, das, was zu sehen ist, nüchtern in Schwarz und Weiß, Gut und Böse aufgeteilt, in Vitrinen, durch präzise historische Fakten, grobkörnige Fotografien, Tafeln, Texte, Geschichte eben, wie sie viele ungeheuer spannend finden und viele andere einfach nur langweilig. Jetzt hat die Künstlerin Baseera Khan einen schwarzen Nike-Sneaker hineingestellt, auf den in Gold „iamuslima“ gestickt ist, Michaela Melián hat die Villa der Manns, die schon bald aus München fliehen mussten, als Vogelhäuschen nachgebaut, aus dem spielt sachte Musik, Zitate der Künstlerfamilienmitglieder werden an die Wand geworfen. Gregor Schneider filmt sich beim Schlafen und Essen im Mönchengladbacher Geburtshaus des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels, das der Künstler, der im selben Ort geboren und aufgewachsen ist, mitsamt seiner Einrichtung kaufte. Leon Kahane ist auf Spurensuche in Drancy, einem modernistischen Bauprojekt von Jean Prouvé, das heute wieder als Wohnraum genutzt wird, das die Nazis aber kurz vor der Fertigstellung zum Lager für die Deportation von Juden nach Auschwitz umfunktionierten. Auch Kahanes Großmutter wurde dort festgehalten. Der Künstler versucht, mit seiner Kamera die Aneignung einer Idee der Moderne durch ihre Gegner nachzuzeichnen: Die klaren Strukturen fanden die Nazis perfekt. Von überall her wehen einen hier persönliche Geschichten an, mit denen die Künstler noch lange nicht fertig sind, wie am Tag der Eröffnung die Farbe des blauen Leitsystems noch nicht getrocknet ist. Die Menschen eilen am Eröffnungstag hin und her, sie haben die Ausstellung mit nur einem Schließtag aufgebaut und sie haben es geschafft, dass man auf völlig neue Art der Geschichte beim Arbeiten zuschauen kann.
Was haben wir damit zu tun?
Und das ist auch notwendig. Dieses Jahr veröffentlichte die amerikanische Philosophin Susan Neiman ihr Buch Learning from the Germans: Confronting Race and the Memory of Evil, in dem sie den Deutschen eine harte, aber letztlich erfolgreiche Erinnerungsarbeit und Vergangenheitsbewältigung attestiert. Die Dauerausstellung im NS-Dokumentationszentrum könnte Neiman als Paradebeispiel dienen, und es ist nicht besonders gewagt, davon auszugehen, dass viele sich 2015 von diesem Haus auch eine Art Ende der Erinnerungsarbeit versprachen. Doch seitdem macht die Gegenwart enormen Druck. 2017 zog die AfD mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Deutschen Bundestag ein. Erinnerung ist erneut zum Kampfplatz geworden. Von unterschiedlichen Seiten wird an ihr gerissen. In Zwickau geht alles schief, was nur schiefgehen kann, als dieses Jahr ein neues Denkmal für die Ermordeten des NSU aufgestellt wird, etwa hatte man wohl vergessen, die Hinterbliebenen zu informieren, und schrieb mehrere Namen der Opfer auf dem Gedenkstein falsch. Die AfD fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, kapert allerorten mittelalterliche Denkmäler und will, dass Deutschland beim Wort „Deutschland“ wieder an Kaiser und schöne Königsschlösser denkt. In Ungarn und Polen arbeiten sie permanent an einem neuen, alten nationalistischen Geschichtsbild, in den USA wird gestritten, ob man die Statuen von Generälen der Südstaaten, die vielen Amerikanern auch als Symbole für Rassismus gelten, abbauen müsse. Überall wird gestritten, wie und warum und vor allem an was man sich erinnern soll, während sich zugleich Rassismus und Antisemitismus auf dem Vormarsch befinden. Wie lässt sich das Vergessen auf- und die Erinnerung wachhalten? Das Besondere an der Münchner Ausstellung ist, dass sie nun auch die Frage stellt: Was haben wir heute damit zu tun?
Denn sie wagt es, den Horizont der Dauerausstellung ständig zu überschreiten. In die Vor- und Nachgeschichte, an die Ränder. Im Keller des Gebäudes befindet sich nun neben Ausgaben von Büchern, die 1933 verbrannt wurden, auch eine Arbeit von Paula Markert über die Mordserie des NSU. Willem De Rooijs Arbeit Vorhaben zum Gedenken an „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“, 2019 bemüht sich darum, diese zwei „vergessenen“ Opfergruppen zu repräsentieren. Viele Arbeiten handeln von heutigen Formen von Ausgrenzung, es geht um die Gastarbeiter-Generation der 1970er Jahre, die Stigmatisierung von Homosexuellen. Wenn neben den präzisen Informationstafeln zur Propaganda-Ausstellung Entartete Kunst jetzt ein echter, wunderschöner Emil Nolde hängt, der selbst Nazi war, aber dessen Kunst auch als entartet galt und von dem in diesem Jahr Angela Merkel zwei Gemälde aus ihrem Büro entfernen ließ, weil er eben selbst Nazi war, dann werden Widersprüchlichkeiten plötzlich wirklich greifbar.
Andererseits: In der Ausstellung findet sich eine Arbeit des auch auf dem Kunstmarkt sehr erfolgreichen Arthur Jafa. Aus 841 zusammengeschnittenen Standbildern ergibt sich eine überwältigende Reflexion über afroamerikanische Kultur, unterlegt mit einem Techno-Beat. Die Arbeit reflektiert eine Gewalt und erzeugt eine Wucht, die dem, was das Haus hier zum Inhalt hat, angemessen scheint, während das Gros der gezeigten Arbeiten einen weicheren Zugang sucht. Sie könnte auch als verharmlosend empfunden werden, wenn man bedenkt, dass nun der strukturelle Rassismus in den USA von heute mit der industriellen Tötung von sechs Millionen Juden in Verbindung steht. Aber genau diese wunden Fragen werden hier erst einmal sehr produktiv in den Raum gestellt.
Die Stadt München, die immer damit zauderte, sich der Aufarbeitung ihrer eigenen NS-Geschichte zu stellen, und deren Volkspartei CSU sowie viele Bürger noch 1997 hysterisch gegen die Wehrmachtsausstellung in ihrer Stadt protestierten, setzt mit dieser furchtlosen und waghalsigen Ausstellung erstmals als Allererstes ein Zeichen für eine neue Erinnerungskultur.
Info
Tell me about yesterday tomorrow ist im NS-Dokumentationszentrum München noch bis zum 30. August 2020 zu sehen
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