Also, warum sind wir noch mal hier? Eine gute Frage, auch zum Start des deutschen Kunstherbstes, dessen Stattfinden wohl weltweit einmalig ist, haben doch Paris, New York und so weiter noch viel zu viel mit Covid zu tun. Die gute Frage stellt ein Kanister. Und als Comicfigur, eine Pfeife schmauchend, erzählt dieser schlammgrüne Wehrmacht-Einheitskanister in Leon Kahanes Videoarbeit Jerricans to Can Jerry als Antwort eine Geschichte. Dieses Mal, sagt der Kanister, sollten wir aber endlich mal richtig zuhören. Und im Grunde erzählt er dann auch zwei Geschichten: Einmal seine eigene: „Ich wurde von sowjetischen Zwangsarbeitern in deutschen Fabriken produziert. In Coburg, der ersten Nazistadt Deutschlands.“ Und wie er dann vom Feind zum Verbündeten und Helden wurde. In den Händen der Alliierten habe er letztlich geholfen, dem deutschen Todeskult einen Todesstoß zu versetzen, sagt er und rührt in seinem Tee. Die darunterliegende Geschichte handelt von der Familie und Firma Max Brose, die diesen Kanister seit 1936 in Serie herstellte. Bis heute, erklärt der Künstler Kahane, versuche der Brose-Erbe, ein geschöntes Bild seines Großvaters zu zeichnen. Brisant und hervorragend wird die Arbeit durch ihre Nachbarschaft: Denn diese kleine Ausstellung findet auf der Leipziger Straße in Berlin statt, im selben Haus wie die Julia Stoschek Collection, also einem der hippsten Kunstorte Berlins, wo die populäre Kunstsammlerin Stoschek der Stadt ihre Videosammlung vorführt. Die, und das wissen eben die wenigsten, Urenkelin und Teilhaberin der Firma Max Brose Fahrzeugteile ist. Stoschek habe sich bisher nicht zu ihrer Familiengeschichte bekannt, um zu einer Aufarbeitung beizutragen, klagt Kahane. Bisher gibt es noch keine Reaktion der Sammlerin auf das neue Kanisterkunstwerk.
Also, warum sind wir noch mal hier? Nach Monaten der Schließung von Museen und Galerien öffnen sie nun allesamt mit einem Knall. Der ist so laut, dass sogar das Wetter einen Sprung zurück macht. Im sogenannten Kunstherbst ist plötzlich noch einmal Hochsommer. Und so lange nichts gesehen habend, möchte ich jetzt in fünf Tagen so viel anschauen, wie es nur irgend geht. Was bekannt ist: Seit diesem Jahr ist Kunst und Kultur systemrelevant und das bedeutet im Grunde, dass die Welt, in der wir Menschen uns mehr oder weniger gut zusammenzivilisieren, ohne Kunst überhaupt nicht existieren kann. Hat sich also etwas verändert?
Vergleiche sind widerlich, helfen tun sie aber doch ganz gut. Deshalb schaue ich mich auch erst mal in München um. Hier startet, absurderweise genau zeitgleich mit dem Galerienwochenende in Berlin, dasselbe. Galerien, Off-Spaces und Museen eröffnen zum dritten Mal unter dem Schlagwort Various Others. Spielerisch konzeptuell laden die in München Beheimateten Galerien aus anderen Städten ein, dadurch entsteht ein partnerschaftlich-überregionales Flair, wo dieser Tage durch den Wegfall vieler Sammler aus Übersee gerade der Rückbezug aufs Regionale prägend ist. In den Räumen darf ein Besucher auf 10 Quadratmetern gucken, mit Maske, sonst kommt die Covidpolizei. Der Hunger nach Kunst ist groß, alle haben gute Laune. Ein Besuch lohnt sich allein für die erste Retrospektive der jungen Künstlerin Lucy McKenzie im Museum Brandhorst, das sie mit einem Remix aller aktuellen Praktiken der Gegenwartskunst in einem überbordenden und illusionistischen Oeuvre bespielt. Im Kunstverein München wird in Form einer Ausstellung und eines voluminösen Readers die Frage nach künstlerischer Produktion und sozialer Klasse gestellt. Am Abend reicht die Chefin des Kunstvereins Josef und mir eine Flasche Champagner heraus. Josef sieht aus wie der Nikolaus, er wohnt seit 15 Jahren im angrenzenden Hofgarten unter freiem Himmel. Er braucht keine Maske, sein riesiger Bart hält alles ab. Wir sind zufrieden. Zum Ende trägt er lauthals einige selbst geschriebene bayrische Gedichte vor, dann gehe ich nach Hause und er auf seine Luftmatratze neben dem Einkaufskorb.
Beim Gang durch die Galerien stellt sich schnell und plötzlich ein Gefühl ein, das man lange nicht gefühlt hatte. Man versteht wieder, was das soll – Kunst –, das ist ja eben so grandios unnütz. Man merkt, wie sich das eigene Denken und Fühlen verrationalisiert, verwissenschaftlicht und verlogikt hatte. Besonders hochgehalten wird das Unvernünftige im ganz neuen Off-Space Schwabinggrad. Während der Eröffnung steht der beinahe pensionierte Professor und Künstler Stephan Dillemuth da und erklärt, der Name leite sich ab aus dem Anfang und Ende des Faschismus, Stichwort Schwabinger Boheme, zirka 1900 bis 1918. Und jetzt bitte kurz warten, gleich käme der Künstler! Und dann kommt Dillemuth, als eine Art Clown verkleidet, und stellt sich als Werner von Delmont vor. „Hier ein Getränk, Tequila mit Crémant, bitte als Slammer im gedeckelten Whiskytumbler auf den Tresen hauen, der wiederum eine Tonskulptur ist, die es zu zertrümmern gilt.“ Vom Design her orientiere sich der Auftritt an der exklusiven Schumann’s Bar – „um den Münchnern den Zugang zu erleichtern“, sagt sein Sohn Hans-Dieter, der ein bisschen aussieht wie die Galeristin Deborah Schamoni, die dann noch ergänzt: „Die Macher hier sind anonym und man kann sich gar nicht vorstellen, wer das ist.“
In Berlin bemüht man sich natürlich, noch ein bisschen übermütiger daherzukommen. Die Pandemie hatte alles durcheinandergewirbelt und dazu geführt, dass innerhalb von sieben Tagen die Kunstveranstaltungen eines gesamten Jahres zusammenfallen: Art Week, in der viele Museen aufmachen, Kunstmesse, Berlin Biennale, Gallery Weekend, und dann macht nun auch noch das Berghain Kunst, aber dazu später. Wer genau nachzählt, der merkt nach Adam Riese: Es gibt in diesem Augenblick mehr Kunst zu sehen als jemals in der Geschichte der Stadt. Dabei lag man doch eben noch vor dem Laptop zu Hause und durfte gar nicht raus. Überforderung – man kennt das Gefühl aus der Hauptstadt, hektisch versucht man 1.000 Kunsträume zu durchwuseln. Bis man den Elektroroller in die Spree schmeißt und zu Fuß weitergeht, es ist wirklich friedlicher als sonst, es sind weniger Leute da, aber es ist nicht weniger spannend. Wir, zuletzt zu Distanz-Experten geworden, nähern uns wieder an wie kleine kathartische Katzenbabys mit großen Augen. Man lernt wieder sehen. Und man lernt auch wieder sprechen. Über Kunst. Und natürlich trinken, an der Seite von Kunst.
Raunen beim Naturwein
In der Galerie BQ zeigt der Zeichner David Shrigley, dass man auch klein kann: Er hat einen Shop eingerichtet, in dem jeder etwas kaufen kann, T-Shirts, Postkarten, Pfefferstreuer, allerlei. Der Klarste und Großformatigste, Andreas Gursky, zeigt bei Sprüth Magers plötzlich verschwommene, romantische Handy-Fotos seiner Frau und seines kleinen Kindes (nicht zu verkaufen), im außerhalb gelegenen Brücke-Museum hat Vivian Suter frei hängenden Leinwände neben die Werke der Brücke-Künstler gestellt. Die Galerie Neu zeigt Victor Man, dessen grünschimmelige, düstere Malereien irre schön sind. Dort findet sich auch die Malerei dieser Tage: ein riesiger Pestvogel. Am Rande redet man immer übers Berghain. Das Sammlerpaar Karen und Christian Boros, selbst Bunkerbewohner, haben dort eine amtliche Ausstellung mit dem Who-is-Who aktueller Berliner Künstler kuratiert, und im Grunde versteht man die Intention der Beteiligten: Wenn Christian Boros sich während der Presseeröffnung lange Zeit genau dort postiert, wo eigentlich der berühmte Bouncer steht und rein oder raus sagt, ist klar, wofür er sein Privatgeld investiert (auch seine eigene Sammlung steigt natürlich an Wert). Das Berghain hat auch viel davon, obschon manche finden, der Mythos verblasse durch den Einzug der Hochkultur, Stichwort Entweihung. Klaus Lederer muss sich allerdings Kritik gefallen lassen. Er hat dieses Projekt eines schwerreichen Sammlerpaares und eines Unternehmens mit 250.000 Euro Staatsknete hälftig subventioniert. Der Eintritt liegt bei 20 Euro (die allerdings dem Berghain zukommen sollen). Aber ist das hier nicht eine Lufthansa-Rettung? Hätte es nicht jeder andere Club nötiger gehabt? Toll ist, dass man im Drinnen immer noch keine Fotos machen darf, die Schlangen davor gehen derweil schon wieder bis Jericho. Die New York Times schreibt, was in Berlin so alles abgeht, man wusste bisher nur nicht, dass diese Art Stadtmarketing Kulturminister Lederer so wichtig ist.
Am Ende geschieht dann noch etwas. Ein Künstler erzählt von einem neuen Ort im Wedding, ein Paar aus Manhattan habe eine alte Maschinenfabrik gekauft und würde dort ein großes gemeinnütziges Residency-Programm für Künstler entwickeln. Als ich am Eröffnungsabend dort ankomme, bin ich total von den Socken. Atemraubende Ateliers von immenser Größe – und weder Kommunikationsagentinnen, Galeristen noch überhaupt jemand in der City scheint von all dem hier zu wissen. Callie’s heißt es, raunt man beim Naturwein. Der Moma-Künstler Jimmy Durham zeigt hier Design-Arbeiten, kaum bewacht. Leise hat sich dieses neue Raumschiff in die Stadt geschoben, so etwas hat man bisher noch nicht gesehen.
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