Corona zwingt uns in ein Experiment, an dem die ganze Welt teilnimmt. Womöglich handelt es sich sogar um das größte gesellschaftliche Experiment der letzten paar Hundert Jahre. Die Ausgangsfrage ist natürlich: Kommen wir da lebend raus? Aber nur ein paar Fragen weiter drängelt schon: Kommen wir eigentlich noch klar mit uns?
Die Fakten zum Virus, das sagt mittlerweile auch die Bundesregierung deutlich, zeichnen ein besorgniserregendes Bild. Wir sind noch nicht immun, die Mortalität ist hoch, die Verbreitung schnell, der Höhepunkt noch längst nicht erreicht. Das Ziel lautet nun, die Übertragung zu bremsen, weil sonst das Gesundheitssystem kollabiert und eine immer größere Zahl der Erkrankten nicht mehr behandelt werden kann. Einige Expert
ige Experten sind sich sicher, das Einzige, was das Virus nachhaltig aufhält, wäre, dass alle für ein paar Wochen zu Hause bleiben. Modell China.Und jetzt auch: Modell Italien. Der italienische Ministerpräsident hat das ganze Land über Nacht zur Sperrzone gemacht. Bis zum 3. April darf niemand mehr hin und her. Es werden keine Hochzeiten und Begräbnisse gefeiert, Kinos sind zu, mit Ausnahme von Apotheken und Lebensmittelgeschäften bleiben Läden geschlossen, ebenso wie Restaurants – es geht eh niemand hin. Das Leben wird aus dem Leben zurückgedrängt. Auf Youtube gibt es Videos aus der dunklen Stadt Wuhan, Wolkenkratzer in menschenleeren Städten, aus den Wohnungen kommen Schreie. Man hat kaum je etwas Dystopischeres gesehen und gehört. Andererseits: Die drastische Quarantäne hat offenbar gewirkt; glaubt man der chinesischen Regierung, gehen die Zahlen der Infizierten zurück.Für fast alle Menschen, die aktuell in Deutschland leben, bedeutet die Krisensituation ein absolutes Novum. Gewohnheiten und Verhalten sind zu ändern. Angeraten, vielleicht bald gesetzlich verordnet, ist die Isolation. Wir schaffen das nicht, glauben viele. Wir brauchen Austausch. Wir müssen vor allem arbeiten gehen! Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht haben wir in ein paar Wochen nachhaltig begriffen, dass die Welt gar nicht untergeht, wenn wir nicht immer so dolle schaffen gehen. Vielleicht werden wir nach ein paar Wochen Quarantäne von der jahrzehntelang eingeübten Arbeitsethik abrücken und in Zukunft freiwillig sehr viel mehr Zeit mit unseren Kindern verbringen wollen.Schon jetzt ist klar: Was für die einen die Rückkehr in die Barbarei bedeutet, dem können andere neue Möglichkeiten abgewinnen: Der Flugverkehr kommt zum Erliegen – die Umwelt darf verschnaufen, die Märkte liegen lahm –, das Wirtschaftssystem wird hinterfragt. Vielleicht sogar endlich verändert?Das Coronavirus ist zweifellos extrem gefährlich, es birgt aber auch Chancen. Das Virus zwingt uns abrupt und in aller Dringlichkeit, sich zu zwei entscheidenden Zukunftsfragen westlicher Länder zu verhalten: die arbeitslose Gesellschaft und die alternde Gesellschaft. All die Menschen, die bald ohne Arbeit dastehen wegen künstlicher Intelligenz und mit deren Zukunft aktuell nur Thinktanks theoretisch beschäftigt sind: Welche neuen Reize, Ideen und Lebensmodelle etablieren wir, damit sie sich nicht abgehängt fühlen und aggressiv werden?Die meisten von uns werden, so jedenfalls der aktuelle Stand, nicht durch das Virus sterben. Sondern sehr viel Zeit haben. Sich zurückziehen. Und sich vielleicht erstmals praktisch mit einem riesigen Problem auseinandersetzen, das der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert erkannte: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“Ruhig im Zimmer bleiben, das heißt allerdings nicht: provinziell werden, nicht über den Tellerrand gucken. Es heißt auch: die Möglichkeit des Digitalen nutzen. Man kann Unterricht digital veranstalten, man kann sich im Internet vernünftig unterhalten. Ruhig im Zimmer bleiben: Das ist auch eine Metapher für unseren Umgang mit den Kindern. Pascals Unglück muss zu unserem Glück werden. Ruhig im Zimmer bleiben: Das ist eine Metapher für unseren Umgang mit der Familie. Mit Oma und Opa natürlich, die in der nächsten Zeit auch getrennt von uns sein müssen. Wissenschaftler sind aktuell davon überzeugt, dass Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sagte dieser Tage unterm Strich: Großeltern schützen. „Wenn man das nicht ernst nimmt, muss man davon ausgehen, dass es bei diesen Risikogruppen Sterberaten im Bereich von 20 bis 25 Prozent geben wird.“ Menschen begreifen in diesem Moment, was Solidarität bedeutet.Ich wasche meine Hände nicht für mich selbst. Ich desinfiziere mich für die anderen, für die Alten, die Kranken. Der in Basel lebende Schriftsteller und Künstler Ingo Niermann forderte auf Facebook: „Die Wahrscheinlichkeit, an #Covid_19 zu sterben, ist 50 Mal höher, wenn man über 70 Jahre alt ist, als wenn man unter 40 Jahre alt ist. Sollten wir älteren Menschen nicht nur einen Sitzplatz, sondern kostenlose Taxis und kostenlose Bahnfahrten in der 1. Klasse anbieten, damit sie sicher sind?“Die Metaphern dieser Krankheit bieten noch große Füllmöglichkeiten. Es etabliert sich aber auch eine Ethik des Ausnahmezustands und des stillen Zimmers. Der Filmemacher Alexander Kluge, der in dieser Ausgabe des Freitag interviewt wird, hat 1974 einen Film gedreht mit dem Titel: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Es gilt nun, Ruhe zu bewahren. Aber wir können auch etwas tun. In unseren stillen Zimmern sitzen und überlegen, was wir eigentlich mit uns anfangen wollen.Vielleicht gedanklich mal vom Mittelweg abkommen. Und sich vielleicht sogar vom alten Denken verabschieden, nachdem alles immer nur mehr werden muss. Die „postmateriellen Werte“ waren lange ein Schlagwort, jetzt könnten sie existenziell werden. Tschüss, Wachstumswahn. Mehr Freiheit, mehr Geld für alle, mehr Arbeit. Dass das Wenigerwerden der gesellschaftlich und auch evolutionstechnisch neue große Schritt ist, ist unglaublich schwer zu begreifen. Gerade jetzt sind dafür, hoffentlich sehr kurz und konzentriert, die besten Voraussetzungen geschaffen.