Muss ich wirklich wissen, was PoC bedeutet?

Rassismus Eine junge Generation fordert, dass sich die Gesellschaft einer Wurzelbehandlung unterzieht. Gut so!
Ausgabe 24/2020
Tausende Menschen protestierten am 6. Juni in Berlin auf dem Alexanderplatz gegen Rassismus unter dem Motto „Black Lives Matter“
Tausende Menschen protestierten am 6. Juni in Berlin auf dem Alexanderplatz gegen Rassismus unter dem Motto „Black Lives Matter“

Foto: Imago Images/Stefan Zeitz

Weiße privilegierte Europäer, zumal die nicht mehr ganz jungen, zumal die, die sich tendenziell eher auf der aufklärerischen Seite fühlen, tun sich schwer mit der Bewegung Black Lives Matter. Es fällt ihnen nicht leicht, vorbehaltlos auf das zu reagieren oder gar mit dem zu sympathisieren, was auf den Mord des schwarzen George Floyd durch Polizisten in Minneapolis folgte, nämlich nötige Diskussionen, Unruhen und weltweite Demonstrationen, die von einigen bereits Revolution genannt werden. Und sie tun sich schwer, das alles zuzugeben. Klar, über Hunderttausende waren es am vergangenen Wochenende allein in Deutschland. Wohl auch, aber wohl auch nicht nur wegen der Angst vor Corona waren aber in großer Mehrheit sehr junge Menschen auf der Straße. Sie ergaben das euphorische Bild einer Jugend, von denen sich viele sicherlich in dieser Zahl erstmals als politische Gemeinschaft erlebten.

Der größte kulturelle Kampfplatz der letzten Jahre – Identitätspolitik –, durch Corona zuerst fast zum Erliegen gekommen, weitet sich plötzlich rasant aus. Wohin führt das? Es geht ein Riss durch Familien, Talkshows und Redaktionen, und dieser lässt auf einen Generationskonflikt blicken, wie er schon bei Fridays for Future beobachtet werden konnte. In der New York Times gärt gerade ein Kampf zwischen eher linksliberalen Mitarbeitern, die über 40 sind, und den Progressiven, Jüngeren, die als „woke“ gelten, was man entweder als überempfindlich oder eben angemessen „wachsam“ gegenüber rassistischer Ungerechtigkeit verstehen kann. Komplizierter ist das, weil Jung und Alt auf der ersten Ebene, ganz ähnlich wie beim Klima, einer Meinung scheinen: Natürlich ist man „gegen“ den Klimawandel, natürlich ist man gegen Rassismus. Auf Änderungswünsche reagieren Cis-Boomer in Gesprächen aber auffallend bockig: Nein, man selbst habe damit nichts zu tun, hier ist es anders, besser.

Das ist absurd, da die Gewalttaten durch rechts auch hierzulande zunehmen und weil eine junge Generation nichts weniger fordert als eine Wurzelbehandlung des Rassismus. Sie will an seine Strukturen gehen. Wie sie das macht, stößt auf unseren Widerwillen. Muss man wissen, warum Schwarze sich nun häufig als PoC (People of Color) oder BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) definieren? Brauche ich wirklich Benimmregeln, wie ich mich als weißer Mensch auf einer Demonstration für die Rechte von Schwarzen verhalten darf? Und muss man dort Buße tun, wie das in Amerika zum Teil vor Demonstrationen zelebriert wird?

Dabei hantiert die Woke-Jugend nur mit etwas, das uns bekannt vorkommen sollte, sie nennen es nur eben anders: Dekonstruktion, ein analytisches Verfahren, das Hinterfragen des Alltäglichsten und Selbstverständlichsten. Die Schlausten und Härtesten von ihnen wollen in die Grammatik unserer Sprache, in die Geschichten unserer Familie, in die banalsten Gespräche beim Esstisch – sie wollen, dass sie sich und wir uns als Teil des Problems erkennen.

Das geht tief. Und kann ganz schön nerven. Aber könnte es nicht auch interessant sein, noch einmal zum tiefen Kern von sich selbst hinabzusteigen und zu fragen: Warum rede ich so? Was hat das vielleicht doch mit mir zu tun, wenn, wie eine Studie zeigt, Lehramtsstudenten einem Kind namens „Murat“ im Schnitt beim Diktat eine schlechtere Note geben als „Max“ – auch wenn die Leistung bzw. Fehlerzahl gleich war. Alles außer unserer Solidarität für diese Bewegung bedeutet ein fades und folgenschweres Weiter-so.

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