Echter als echt

Provence Wer durch das Vorzeigedorf Lourmarin, in dem Albert Camus begraben liegt, schlendert, kommt auf böse Gedanken
Ausgabe 31/2020
Noch schick oder schon schäbig?
Noch schick oder schon schäbig?

Foto: Imago Images/Imagebroker/giovannini

Wenn ich es schon nach Südfrankreich geschafft hätte in diesem seltsamen Sommer 2020, dann sollte ich jetzt doch auch nach Lourmarin fahren, sagten sie. Dort sei Albert Camus begraben, und dort sei es überhaupt wunderwunderschön. Ich fuhr also nach Lourmarin mit seinen 1.000 Einwohnern, über Aix-en-Provence gelegen und, so las ich zuvor, als eines der „Schönsten Dörfer Frankreichs“ klassifiziert. Camus hatte sich in der Gemeinde 1958 ein Haus gekauft, vom Geld des Nobelpreises, den er auch für Die Pest bekommen hatte, den Roman dieses seltsamen Jahres 2020.

Durchs Dorf wandernd, ist man verblüfft, ja eigentlich verwirrt, erschlagen von Schönheit. Alles glänzt eigentümlich abgeschabt, die Häuserfassaden scheinen erhalten, das Fleisch der supergesunden heimischen Tiere, die scharfen provenzalischen Messer selbst gefertigt, der Wein sowieso, die antiken Uhren von Hand aufgezogen, dazu die ganzen Läden, in denen die Regionalität verkauft wird von diesen Menschen, die aussehen, als gäbe es sie selbst bei einem Manufactum-Europa zu kaufen. Eine kleine Straße, in der Kunstwerke und hochpreisige Handwerkskunst zu erstehen ist. Jedes Ding in diesem Dorf wirkt, als wäre es einmalig in der Welt.

Da sah ich einen älteren Ladenbesitzer, wie alle hier in die Mode der 1930er bis 1950er Jahre gekleidet und wie frisch aus einem Wes-Anderson-Film gehüpft, wie er eine neue Straßenlaterne vor sein Geschäft baute. Aber was heißt „neu“ – sie sah alt aus. Auf alt gemacht, mit Kratzern, bereits abgeblättertem Lack, shabby chic nennt man das wohl oder einfach nur: Verarsche. Aber logisch, die falsche Lampe machte das Dorf noch ein bisschen echter. Vom Feeling her.

Es war heiß in der Mittagshitze, und ich schaute nun sehr, sehr genau hin. Die Katzen, die man an jeder Ecke streichelte, weil sie so handzahm waren und so gut dufteten – stachen ihnen nicht kleine Rädchen aus dem Rücken? Waren die Kätzchen vielleicht Automaten? Auch an des Käsemeisters riesigem Nacken suchte ich nach einer Kurbel. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Dieses Dorf hier war echter als echt.

Vor meinen Augen „passierte“, wovon ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen hatte, in dem Buch Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre beschreiben dort eine neuartige „Ökonomie der Vergangenheit“, in der der größte Profit in der Herstellung von sammlungswürdigen Einzelstücken und Erfahrungen liege. Sie sehen darin einen neuen Kapitalismus am Werk. Ziel sei nicht mehr die industrielle Produktion, sondern die Anreicherung von bereits vorhandenen Dingen mit einer bestimmten Geschichte, Tradition und den Erzählungen, die Dingen, Orten und Personen unschätzbaren Wert verleihen.

Lourmarin war ganz offensichtlich so eine europäische Musterstadt, von der sie schreiben. Die auf neue Art Bildende Kunst, Luxusindustrie, Heritage und Tourismus verbindet zu einer Art Disneyland-Welt, die für Arme kaum mehr zu betreten, aber für Reiche erlebbar ist wie eine Schatzkiste des „guten Lebens“.

Ich aß dann in einem Restaurant das beste Beefsteak meines Lebens. Während ich auf dem edlen Stück Fleisch kaute, muhte es im Hintergrund kräftig, ich zuckte zusammen, etwas Ungewöhnliches vollzog sich in mir: Ich verstand! Was haben wir in Deutschland eigentlich zu bieten? Natürlich, es sind die gallischen, gärigen Dörfer im Osten, in die sich ob der verrückten Nazis niemand mehr traut. Dort müsste man einen Anti-Tourismus erfinden, der zeigt, wie man „alles“ nicht machen sollte. Die Nazis müssten sich selbst spielen und genauso authentisch bleiben wie eh und je, sie würden dafür gut bezahlt.

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