Wenn in der Bahn der Staat zerbröselt

Maskenpflicht Eine Zugfahrt in Corona-Zeiten ist der schnellste Weg in den Wahnsinn
Ausgabe 33/2020
Mit dieser Tragweise erspart man sich vermutlich jeglichen Kommentar auf der Zugfahrt
Mit dieser Tragweise erspart man sich vermutlich jeglichen Kommentar auf der Zugfahrt

Foto: Hans Lucas/Imago Images

Kürzlich verlor ich meinen Kopf. Es war im ICE von Berlin nach München, und wenn Sie ein guter Staatsbürger, am Gemeinwohl orientiert und von Vernunft geleitet sind, werden Sie verstehen, was ich meine. Schon beim Einstieg Typen, die das Virus nun in die Wirklichkeit gezaubert hat: der hysterische Supermaskenträger und Permanent-Desinfizierer auf hastiger Suche nach dem einsamsten Platz im Abteil. Dann der ihm gegenüber Platz nehmende Easy-going-Libertär mit Party-Strohhut und ohne Maske. „Maske auf!“, schnauzt Supermaskenträger. „Maske brauch ich nicht“, entgegnet Strohhut, und sein Freund, Surfer und wie er wohl Festival-Fan, lacht hohl und schätterig. „Ich habe ein Attest vom Arzt, dass ich keine Maske tragen muss. Wollen Sie es sehen?“ Will man nicht. Supermaskenträger nicht, und auch die Schaffner nicht, die immer wieder kommen und die Maskenpflicht anmahnen. Was für ein Depp, denkt jeder. Und Strohhut freut sich und guckt angriffslustig. Ich halte das nicht aus, schnell ein Kaffee im Bordbistro, der nun wegen der Mehrwertsteuer-Senkung 3,41 Euro kostet, und weil das jetzt so absurde und krumme Zeiten sind, ist das auch völlig okay. Dabei ist das mit Strohhut ja echt nicht okay. Wer bringt den Dödel zur Räson? Immerhin, hinter Bamberg geht die Sonne unter, kann’s was Schöneres geben in Germany? Wohl nicht. Dann Durchsage: Ein Zug sei stehen geblieben, wir wollen die 350 (!) Reisenden aufnehmen. An sich ja gut. Andererseits: Wie bitte!? Ich eile zum Platz, sehe: Vor dem Arzt-Attest-Typ, in dessen direkter Nähe ich zwei Stunden saß, ohne dass der eine Maske trug, liegt wirklich der Demokratische Widerstand, die Corona-Leugner-Zeitung. Strohhut war am Wochenende auf der Demo in Berlin, hat sich mit ’ner ordentlichen Ladung Wahnsinn aufgepumpt und macht hier jetzt den Coolen. Und steckt mich an. Uns alle. Panik bricht aus. In mir. Corona ja sicher auch bereits.

Und dann kommt die Flut der Steckengebliebenen. Ist ihnen auch unangenehm. Aber sie wollen auch nach Hause. Jeder macht den Platz neben sich frei. Alles voll. Manche stehen im Gang. Fast jeder trägt eine Maske. Im ganzen Zug? Nein, ein paar leisten nach wie vor Widerstand. Dank eines Zaubertranks, den Druiden wie Attila Hildmann zusammenbrauen, sind sie praktisch unbesiegbar. Ein junger Arzt hat auch welche gefunden, wir treffen uns wie Trottel beim Schaffner und nölen – wie kann das sein? Der Schaffner will keine blutige Nase. In Frankreich wurde ein Busfahrer aufgrund eines Maskenstreits totgeprügelt, auch in Oldenburg einer krankenhausreif, sie werden bespuckt und beschimpft. Während ihre Chefs im Homeoffice sitzen.

Man setzt sich wieder, fährt weiter, verliert den Bezug zur Logik, die die eigene Welt zusammenhält: Jeder kleinste Dorf-Friseur in Buttelbü braucht ein knacksicheres Konzept, Ordnungsämter kontrollieren. Alle warnen vor Menschenansammlungen, geschlossenen Räumen und engem Kontakt. Und die bundeseigene DB, die 4,4 Milliarden Reisende im Jahr befördert und aktuell haufenweise Urlaubsrückkehrer – muss das alles nicht?! Schafft nicht, was sogar die BVG in Berlin schafft? Bisher weigert sie sich, eine Bußgeld-Verordnung einzuführen. Man sitzt da, und die Idee des Staates löst sich in dieser Sekunde auf. Was zur Hölle hält uns denn zusammen? Es wird verrückt im Kopf. Man atmet in die stehende Luft, alle atmen in die stehende Luft. Mit Lappen vorm Gesicht. Fast jeder. Jeder wird jedenfalls ein bisschen verrückter.

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