Kleines Mädchen hinter der Mauer

"Damals in der DDR" Der MDR erzählt Geschichte von unten und vertraut sicherheitshalber auf die Deutung von oben

Lebens-Wende 1961-1989

Ja, wie war das eigentlich "Damals"? War das Leben wirklich Leben? War es das Richtige im Falschen oder überhaupt das Falsche oder das einzig Richtige? Erinnerung, die unzuverlässigste und sicherste menschliche Fähigkeit, Vergangenes zu bewahren, betrügt uns mit Wahrheit genannten Fälschungen und beschert uns zugleich irrlichternde Gewissheiten. Erinnerung - ein empfindliches, komplexes System zur Orientierung, zum Vergleich, zum Handeln. Ein lebenswichtiges System.

In einer Koproduktion von MDR und WDR hat sich ein Ost-West-Kollektiv daran gemacht, zum 15. Jahrestag des Mauerfalls die DDR in einer Dokumentarreihe wieder aufleben zu lassen, um der individuellen und kollektiven Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Ein interessantes aufwändiges Vorhaben, nicht gerade billig: 2,2 Millionen Euro sind den Sendern die Geschichtsstunden wert. Die vierteilige Reihe, die am 8. November in der ARD startet, steht unter dem Motto "Ein Staat, vier Jahrzehnte, 20 Geschichten", ein Zehnteiler folgt 2005/2006 im MDR. Mit über 300 Personen wurden im Vorfeld der Dreharbeiten Gespräche geführt, zirka 2.000 authentische Requisiten sind in den nachgestellten Szenen platziert (Serienregie Karsten Laske / Produktion Gunnar Dedio), Udo Lindenberg trällert im Trailer: "Es war mal eine lange kalte Zeit. Du wohntest so nah und doch so weit", und auch das obligatorische niedliche kleine Mädchen kommt - fahnenschwenkend und selbstredend im Schatten der Mauer - zum Einsatz.

Die Serie soll Geschichte gewissermaßen mit dem Blick von unten erzählen, sorgt sich aber unübersehbar darum, sicherheitshalber auch "Geschichte von oben" zu vermitteln, falls der einfache Zeitzeuge sein damaliges Treiben nicht im Lichte heute gültiger Interpretationsraster von DDR-Geschichte erinnert. So mischen sich Didaktik und Authentizität unter dem Patriarchat geltender Deutungshoheit zu einer Geschichtspolitur, die - das sei fairer Weise gesagt - zumindest im ersten Teil mit dem ebenso spröden wie einfallslosen Titel Neubeginn auf Russisch nicht zu dick aufgetragen wird. Ein ehemaliger DDR-Bürger freut sich ja schon, wenn ein Hauch von damaliger Lebenswirklichkeit zu spüren ist. Schließlich war es sein Leben in diesem "kleinen untergegangenen Land". Etwas davon möchte (wieder)erkennbar sein. Der erste Teil also, er führt zu den Anfängen von 1949 und endet 1961 mit dem Mauerbau - dazwischen die Lasten des Wiederaufbaus und des Kalten Krieges, von beiden Seiten geführt, das Wollen der Menschen und die Irrtümer der Politik. Sechs Zeitzeugen erzählen aus ihren frühen Jahren. Von den Weltfestspielen in Berlin-Ost und dem Agitationsspaziergang über die Sektorengrenze zum Klassenfeind. Da gab es Schokolade und Polizeiprügel.

Ein FDJler zog Ende der fünfziger Jahre auf´s Land, um die Bauern vom Sinn eines Eintritts in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zu überzeugen - und hat bis heute nicht die drei auf ihren Höfen vergessen, die sich umbrachten vor Verzweiflung. Eindrucksvoll auch die Erinnerung einer Rostocker Werftarbeiterin, die Kranfahrerin werden will - und es selbstverständlich auch wird. Oder die Ladenbesitzerin, deren Mann am 17. Juni 1953 verhaftet wird und die ihr Geschäft allein und erfolgreich weiterführt. Schließlich der Wismut- Bergarbeiter, der um Stalin trauert und eine lächerlich andachtsvolle Totenwache hält, der im Erzgebirge Uranerz für die russische Atombombe fördert, um den Amerikanern nicht das Monopol zu überlassen. Der erste Teil überzeugt nicht zuletzt mit aussagekräftigen Zeitzeugen und einer differenzierten Betrachtung beim Thema Ursachen und Geschehnisse des 17. Juni 1953.

Die nachgestellten Szenen, um das Erzählte fassbar zu machen, gehören zur Gestaltungsästhetik der Serie - und sind zweifellos Ansichtssache. Für manchen mögen sie eine eben solche Zumutung sein wie für den Regisseur eine längere Interviewpassage ohne fiktionale Bebilderung. Wenn die Kranfahrerin die erste Besteigung ihres monströsen Gefährts schildert und es wird dazu das exakt nachgestellte Bild gereicht, dann ist das bestenfalls putzig. Den Aussagen dieser Frau wird der Zuschauer nicht nur zuhören, er wird ihr dabei auch ins Gesicht sehen wollen. "Damals in der DDR". Ja, so war es - teilweise zumindest und immer auch ganz anders.


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