Von Berlin aus ist jeder Weg ins Grenzgebiet eine Reise ans Ende der Welt, schreibt der Berliner Journalist Uwe Rada in seinem neuen Buch Zwischenland. Damit hat der taz-Redakteur vermutlich nicht so Unrecht. Denn so sehr der Beitritt Polens zur Europäischen Union in aller Munde ist, so wenig kennen die Deutschen die Grenze zu diesem Nachbarn im Osten aus ihrem Alltag. Wahrscheinlich noch nicht einmal in der Hauptstadt, obwohl man von hier aus die Reise ins Unbekannte mit dem Regionalexpress antreten könnte. Wie spricht man gleich noch mal den Ort aus, zu dem die Stadtbrücke in Frankfurt/Oder führt? Slubitsche? Slubitze? Oder Swubitze? Wer war denn schon in Stettin, Guben oder Görlitz? Wer kennt Szczecin, Gubin oder Zgorzelec?
Diese unvertrauten Städte werden mit Projektionen gefüllt. Bilder von Basaren und Geschichten von Schmuggel und Schleppern, lassen die Vorstellung eines Raumes entstehen, in dem der Westler das Ende der zivilisierten Welt verortet. Im alten Westen steht die Grenze für einen Phantomschmerz. Ein Erschrecken darüber, dass in der Bundesrepublik nichts mehr beim Alten blieb, seit der Osten zum Westen kam. Die Polen stehen in Deutschland für das, was man hier fürchtet: Dass Menschen sich unter den Bedingungen eines nackteren Kapitalismus behaupten müssen. Und dafür notfalls schmuggeln, schachern und alle Löhne unterbieten. Die Grenze zum Osten bildet auf der inneren Landkarte der Verunsicherten die Demarkationslinie zwischen dem Alten, das man bewahren möchte und dem Neuen, vor dem man sich abschotten will.
Während für den Westler das Grenzgebiet meist nur als "Erzählung" denn als eigene Anschauung vorhanden ist, steckt es für Rada "voller Hoffnungen, Enttäuschungen und neuer Aufbrüche". Er spinnt nun selbst eine spiegelverkehrte Erzählung um das "Zwischenland". In seinem Buch erzählt er von Orten an der Grenze, von den kleinen Schritten der Verständigung, von ersten Kooperationen und Fehlschlägen. Er zeichnet ein anschauliches Bild von der Lage in den Städten, die am Grenzfluss liegen. Von Frankfurt/ Oder und Slubitze, wo es zwar nicht gelang, eine 750-Jahrfeier gemeinsam zu planen, wo aber die deutschen und polnischen Studenten mittlerweile selbstverständlich die Grenze passieren. Von Szczecin, das als ökonomischer Hoffnungsträger der Region gilt, sogar für die deutsche Seite. Von Görlitz mit seinen wunderschönen Gründerzeitbauten, das mehr und mehr zur Kulissenstadt wird, weil die Menschen abwandern. Vom benachbarten Zgorzelec, einer jungen, prosperierenden Stadt mit vielen Migranten.
Aus dieser Perlenkette von Geschichten kristallisiert sich die eine vom "Zwischenland" als ein Raum heraus, der sich dadurch erst definiert, dass etwas Neues am Entstehen sei, "für das wir noch keine Begriffe haben" - ein Ort zwischen "Nicht mehr" und "Noch nicht". Es gibt konkrete Hoffnungen, die der Autor beschreibt - die der Grenzgänger und diejenigen, die Neuland betreten. Wenn der Autor von Osinów Dolny schreibt, wo das Basarleben zu neuer Blüte treibt, scheint es, als sähe Rada in der "informellen Stadt" ein Modell für die Zukunft. Mit all den "Ameisen", Kofferhändlern und kleinen Businessmen im Grenzgebiet, deren Wege er nicht ohne spürbare Sympathie verfolgt, entsteht ein Bild einer raueren, aber auch vitaleren Welt, die da entdecken kann, wer sich nicht im alten Westen abschottet. Dass die informelle Ökonomie mitunter nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wird - als Stimulans der Wirtschaft und um Brachen, die der Kapitalismus hinterlässt, besseren Gewissens sich selbst überlassen zu können - ist dem Autor bewusst. Weniger dem neoliberalen Projekt der Armen scheint die Sympathie des Autors zu gelten, als dem Mut der Menschen, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und neue Wege zu beschreiten, eine Grenze zu überwinden, statt eine vertraute Welt und lieb gewonnene Sicherheiten zu verteidigen. Die Botschaft schwingt bei allen Grenzlandgeschichten Radas mit: Dass man im Westen diese Lektion von den Pionieren des "Zwischenlands" lernen könne.
Wegen der Fülle von Geschichten und vielen Episoden in immer neuen Facetten bleiben die vielen Einzelschicksale darin nicht immer im Gedächtnis haften. So viele Helden des Alltags machen hier im Grenzland ihr Glück - kommen zueinander oder scheitern daran -, dass der Leser ihre Namen längst vergessen hat, wenn er die Lektüre beendet hat. Mit dem "Ende der Welt" ist man aber doch vertrauter geworden. Rada hat eine Geografie ausgeleuchtet, die am Rande des Bewusstseins liegt, die aber doch längst nicht mehr die Grenze der Vorstellung markieren dürfte. Nach Frankfurt/Oder geht die Welt weiter - diese Botschaft ist angekommen.
Uwe Rada: Zwischenland. Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet. be.bra, Berlin 2004, 265 S., 19,90 EUR
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