"Erfurt, Weimar, Jena bleiben, mit Gera ist es vorbei. Greiz, wo, ich wohne, kommt weg. Für meine Kinder ist schon gesorgt, die Tochter ist fort, am Bodensee. Der Sohn wird Kapitän." So knapp drückt sich der Fahrer eines Opel aus. Rigoros klingt er, als wolle er sich selbst überzeugen, dass es nun mal so ist. Die regenasse Autobahn schimmert im Aprillicht, die Scheibenwischer verreiben Regentröpfchen. Er selbst, sagt er, wird nach Niederbayern ziehen, wenn es so weit ist. Er hat sich schon umgetan.
Eine Tramptour durch Deutschland offenbart unverblümter, deutlicher, unsentimentaler, was im Land los ist, als die Feuilletons der Zeitungen. "Zeigen die Schwundregionen Deutschlands Zukunft?" (Die Zeit), fragen sie oder "Was tun mit einem Raum ohne Volk?" (spiegel-online). Eine Studie des Berlin-Instituts mit dem Titel Die demographische Lage der Nation hat die drastischen Töne ins Gespräch gebracht. Sie setzt demographische und wirtschaftliche Daten miteinander in Beziehung, nimmt die Wanderungsbewegungen hinzu, errechnet Trends und zeichnet ein Bild von "der Zukunftsfähigkeit deutscher Städte und Regionen". Es zeigt sich: Die Gewinner wachsen, die Verlierer bluten aus. Deutschland zerfällt in Boomregionen und solche, die schrumpfen und weiter schrumpfen werden. Neu an der Studie ist, dass diese Bewegung als mittlerweile unumkehrbar eingeschätzt wird. Denn "wer so viel verloren hat, wird weiter verlieren". Die Gewinner liegen im Westen. Es sind Bayern, Baden-Württemberg, Westniedersachsen, Rhein-Main-Gebiet, Nordrhein-Westfalen. Die Verlierer sind die gesamten neuen Bundesländer, das Saarland, das Ruhrgebiet, Teile Oberfrankens und der Küstenregion.
So zynisch die Demografen in ihrer Auswertung des Humankapitals klingen, so deutlich ist die Sprache des Berichts. Eigenartig aber ist die Reaktion. Im beachtlichen Medienecho hallte vor allem eine Botschaft wider: Die Deutschen werden weniger - insgesamt. Die Frauen gebären zu wenige Kinder. Doch kaum kaum jemand fragte nach dem Schicksal der Schwundregionen. Das ist erstaunlich. Denn die Studie ist immerhin die erste, die ebenso offen wie beiläufig den politischen Rat ausspricht, "funktionslos gewordene Städte und Dörfer aufzugeben". 15 Städte befänden sich im freien Fall. 13 davon liegen in der ehemaligen DDR: Hoyerswerda. Cottbus. Halle. Suhl. Gera. Chemnitz. Brandenburg. Magdeburg ... Eine Liste von Orten, für die die Berater keine Zukunft sehen. Sind diese Gebiete tatsächlich längst abgehängt und im gesamtdeutschen Diskurs nicht mehr präsent? Ist das Thema Schrumpfen ein Tabu?
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei das Gegenteil der Fall. Kaum ein anderes Thema scheint die Landesväter so sehr umzutreiben wie dies. Allein in das Projekt Shrinking Cities flossen drei Millionen Euro. Der Kulturstiftung des Bundes erschien das Problem brisant genug, um ihm ihr bislang mit Abstand größtes und teuerstes Projekt zu widmen. Zudem läuft seit 2001 das in Umfang und Anliegen beispiellose Programm Stadtumbau Ost, das bislang rund 450 Millionen Euro in den "Rückbau" ostdeutscher Städte pumpte. Das Phänomen des Schrumpfens ist in seiner Brisanz wohl bewusst. Weshalb wurde dann der Befund in der Studie des Berlin-Instituts nahezu überhört?
Tatsächlich sind - trotz aller Investitionen, trotz aller Kunst im Plattenbau und trotz aller Rückbaudebatten die eigentlichen Probleme der Schwundregionen ungelöst. Indem die Studie die Frage der langfristigen Perspektiven leer laufender Städte, Kleinstädte und Dörfer in den neuen Bundesländern aufwarf, legte sie den Finger in eine offene Wunde. Niemand stellt sich bislang diesem Problem.
So genannte Zukunftskonzepte für schrumpfende Städte wollte man eigentlich im Rahmen von Stadtumbau Ost generieren. Fast panikartig hatte die Bundesregierung im Jahr 2001 das Programm beschlossen, als offenbar geworden war, dass in ostdeutschen Städten seinerzeit eine Million Wohnungen leer standen. Nicht mehr die Taktik des Vogel Strauß - den Kopf in den Sand stecken und abwarten -, sondern entschiedenes Handeln hatte allen voran der Verband deutscher Wohnungsunternehmen gefordert. Die historische Herausforderung - Stadtplanung rückwärts - erfordere konzertiertes Handeln, hieß es, und in Stapeln von Arbeitsmaterialien wurde in Tabellen und Pfeildiagrammen dargestellt, wie Wohnungsunternehmen und Kommunen gemeinsam handeln könnten. Da wurden Schrumpfungsprognosen gestellt und anhand dieser Abrisse geplant, zugleich die Infrastrukturen umgebaut und auf Brachen neue Parks angelegt. "Den Rückzug bewältigen", lautete die Beschwörungsformel.
Tatsächlich bewältigt wurde hauptsächlich der Abriss von bislang 130.000 Wohnungen. Weil der einflussreichste Stichwortgeber für den Umbau die Lobby der Wohnungswirtschaft war, floss allein hierfür wirklich Geld. Marktbereinigung nennen es die Hausbesitzer. Für die Unternehmen ist sie dringend geboten, denn die Ware "Wohnungen" verliert aufgrund des Überangebotes rasch an Wert. Das eigentliche Problem - den geordneten Rückzug zu bewerkstelligen - blieb weitgehend ungelöst. In Städten wie Hoyerswerda entstehen Stadtbrachen, weit wie Fußballfelder, auf denen nicht einmal ein Baum gepflanzt werden kann, denn die Kommunen haben dafür kein Geld. Der Wind saust darüber hinweg. Die Bewohner entscheiden "mit den Füßen", wenn sie die Stille ihrer halb aufgegebenen Siedlungen nicht mehr ertragen.
Nach den Politikern des Stadtumbau Ost besichtigen die Raumpioniere von Shrinking Cities Hoyerswerda. Um dringend benötigte "Handlungskonzepte" zu finden, untersuchte das Projekt schrumpfende Städte weltweit. Denn es gibt sie mittlerweile überall: Wo Industrien veröden, verlieren Ansiedlungen ihre Daseinsberechtigung, bleiben leere Gehäuse zurück. Hier verändert sich alles: Der öffentliche Raum, das kulturelle Leben, die Geschwindigkeit. Eine wahre Armee von Raumplanern, Architekten und Künstlern schwärmte bald aus, um international die bewussten Orte zu sondieren. Ehemalige Bergarbeiterstädte in England. Textilstädte in Russland, aufgegebene Autoindustrie in Detroit. Das Ergebnis waren eine Fülle von Material und kluge Analysen. Und "Handlungskonzepte", die vage blieben. Man könnte urbane Landwirtschaft betreiben, in leeren Wohnungen Edelpilze züchten. Man könnte Plattenbauten einmauern, statt sie abzureißen, in Ruinen neue Musikstile erfinden - sowie in Detroit, wo der Techno entstand.
Den schrumpfenden Städten ist insofern sehr viel Beachtung geschenkt worden - und zugleich alarmierend wenig. Eher als der Stadtumbau Ost hätten die Shrinking Cities mit ihrer tastenden Suche nach Lösungen für ein bislang unbekanntes Problem der Arzt für den siechen Patienten sein können. Doch auch das Megaprojekt fand keine Medizin für die ostdeutschen Schwundstädte. Wer schrumpfende Städte als internationales Phänomen untersucht, kann nur herausfinden, dass das Schrumpfen an unterschiedlichen Orten je Verschiedenes bedeutet. Mitunter verlassen die Menschen einen Ort - jedoch nur, um ins Umland zu ziehen. Oder schrumpfende Städte liegen inmitten von Wachstumsregionen wie Detroit. Manche erfahren neue Beachtung, unter anderen Vorzeichen, wie Manchester. Andere nicht. Weil der einzige gemeinsame Nenner der Städte das Schrumpfen selbst war, verharrte Shrinking Cities bei Recyclingideen für obsolet gewordene Räume. Notwendig mussten die Lösungsvorschläge vage bleiben. Denn wie sollen handhabbare, politische Konzepte gefunden werden, ohne den konkreten, lokalen Kontext zu beachten?
Eine besondere, historisch einzigartige Situation aber kennzeichnet die ostdeutschen Schwundregionen. Nicht eine bestimmte Industrie ist hier überflüssig geworden - wie etwa die Liverpooler Werften. Vielmehr wurde mit der Vereinigung "das gesamte Erwerbsspektrum einer Gesellschaft zur Disposition gestellt", bemerkte Wolfgang Kil in seinem Buch Luxus der Leere. Selbst Städte wie Gera, die von einer Vielfalt von Branchen lebten - von Maschinenbau, Elektrotechnik, Textilindustrie, Optik, Nahrungsmittelherstellung - sind heute fast flächendeckend deindustrialisiert. Nicht um Transformation, sondern um De-Ökonomisierung geht es hier - um den Verlust der "gesamten wirtschaftlichen Basis", wie es die Soziologin Christine Hannemann sagt. So entstehen im Osten Deutschlands typische Brachen, wie die globalisierte Wirtschaft sie weltweit hinterlässt, Zonen, die aus der kapitalistischen Verwertung fallen und sich selbst überlassen bleiben. Einzigartig am Fall Ostdeutschland ist, dass dies nicht eine Stadt oder eine Region betrifft, sondern ein ganzes Land. Deshalb ist die Erosion so schwer aufzuhalten und möglicherweise mittlerweile irreversibel. Deshalb trifft es auch nicht mehr den Kern des Problems, von schrumpfenden Städten zu sprechen. Hier schrumpfen ganze Regionen, und mit ihnen ihre Städte. Eher könnte man von Inseln des Überlebens sprechen, die bleiben. Dresden, vielleicht Leipzig, Berlin.
Weder das Ausmaß noch die Bedeutung dieses Rückzugs werden bislang so akzeptiert, indem die Konsequenzen klar analysiert werden. Die Schrumpfungsszenarien einiger Städte offenbaren seit längerem, dass in absehbarer Zeit eine kritische Menge an Einwohnern unterschritten wird, die für die Aufrechterhaltung des Gemeinwesens notwendig ist. Weil Abwassersysteme, Ampelanlagen, der öffentliche Nahverkehr nicht mehr unterhalten werden können. Dennoch wird noch immer ausschließlich über Schwierigkeiten der Stadtplanung debattiert. Bei einer Podiumsdiskussion in Halle zum Thema "Stadtumbau" sagten einige Mieter: "Das Thema ist nicht, ob wir ein oder zwei Jahre im Voraus vom Abriss unseres Hauses erfahren. Wir wollen wissen, wo wir hier noch dauerhaft leben können. Ob wir hier unsere Kinder einschulen sollen." Die Kommunalpolitiker verstanden schlichtweg nicht, was gemeint war.
Symptomatisch für das Ausblenden erscheint auch, dass bislang allein von Städten die Rede ist. Niemand spricht vom ländlichen Raum, wo es offensichtlich ist, dass Orte von der Landkarte verschwinden werden. Die Demografen besagter Studie konstatieren wie nebenbei: Dörfer und Kleinstädte in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern werden sich kaum halten lassen. Dass dieses Thema vermieden wird, verwundert kaum, denn ganze Orte aufzugeben, berührt ein empfindliches kulturelles Tabu. Siedeln ist im biblischen Sinne etwas Gutes. Einen Ort zu verlassen hingegen, wird als etwas Unheilvolles erlebt. Als im Brandenburgischen im Jahr 1908 das völlig unbedeutende Dörfchen Schiedlo abgesiedelt wurde, weil es auf einer Sandbank an einer Flusskehre der Oder stand und fast alljährlich im Hochwasser ertrank, rankte sich ein fast unheimlicher Mythos um dieses aufgegebene Stückchen Land. "Es sei nicht Art des preußischen Königs, eine ihm anvertraute Kulturstätte verschwinden zu lassen", heißt es in einem Buch, über Schiedlos Untergang. "Wüstungen" - Orte, an denen im Mittelalter Städte oder Dörfer verlassen wurden - sind noch heute Gegenstand von Sagen, nach denen an der bewussten Stelle jemand umkommt oder die Toten auferstehen.
Um den Abschied von Orten aber wird es in den ostdeutschen Schwundregionen langfristig gehen. "Einen Rückzug in Anstand und Würde ermöglichen", verlangte schon früh eine Wohnungspolitikerin aus Hoyerswerda. Was im Jahr 2002 noch effektvoll und provozierend klang, könnte heute eine ernst gemeinte Forderung an die Politik sein, an der sich eine Regierung messen lassen müsste. Man wird offen damit umgehen müssen, wo Orte gehalten werden und wo nicht. Andernfalls erodiert nicht nur das Gemeinwesen, sondern zunehmend auch Vertrauen. Man wird tatsächlich entscheiden müssen, gemeinsam die Koffer zu packen, und einen Bauabschnitt, ein Viertel oder vielleicht auch eine Stadt zu verlassen, wenn ein Bleiben nicht mehr zumutbar ist. Andernfalls leben die Zurückbleibenden zusehends auf einem Terrain, das weder gehalten noch aufgegeben wird. Die Menschen wissen heute bereits viel besser als man ihnen zutraut, wie es um ihre liebe Heimat steht. "Das kommt alles weg hier", sagte ein Junge, der in Hoyerswerda auf einer Brache Fußball spielt. "Das wissen wir schon lange".
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