Nachterstedts Leichen im Keller

Ortsbegehung Nachterstedt ist ein seriell hergestelltes Idyll, das voller Widersprüche steckt, und voller Leichen im Keller. Nach dem Unglück ist die Bergarbeiterstadt nun wieder mit sich allein

Die Presse ist weg. Die Bergwacht abgefahren. Eine Woche nach Nachterstedt ist Nachterstedt wieder mit sich allein. Eine schnurgerade Straße führt an die Stelle, wo ein schnödes Absperrband den Weg abschneidet. Blumen sind niedergelegt, Botschaften an die Verschütteten, ein ewiges Licht.

Seit Ruhe herrscht, ist die Gedenkstelle ein Treffpunkt, an dem sich Rentner begegnen, die auf Fahrrädern kommen. Es sind Räder mit Rücktritt und Dreigangschaltung, sie werden an den Zaun des letzten Hauses gelehnt, das nicht evakuiert wurde, dann stehen die beigefarbenen älteren Leute vor dem Blumenberg und reden. Über die Evakuierten, über die Verschütteten und darüber, wer wen kannte. Jeder kannte jemanden. Sie reden über ihre Gärten und dann wieder über die Kata­strophe von Nachterstedt. Es klingt wie eine Kirchenliturgie, bei der verschiedene Sprecher den immer gleichen, bekannten Text wiederholen. Man erfährt nichts Neues, aber es beruhigt. Und die drei Toten, über die alle Welt spricht, stecken derweilen ungeborgen, ohne Kreuz und Namen nur wenige Meter weiter im Schlamm. Unter dem Concordiasee, dessen Wellen die alte Tagebaugrube streicheln.

Es ist ein typischer Bergarbeitertod. Bergarbeiter werden verschüttet. Im Schacht oder im Abraum. Unter Erdmassen, die ins Rutschen kommen und nur eine Ahnung der Gewalt zurückgeben, die ihnen angetan wurde. Rutsch. Und der Mann ist weg. Begraben ohne Stein, ohne Namen, ein Untoter, wenn man so will. Nachterstedt, könnte man sagen, war ein Fingerzeig, dass der Bergarbeiter nicht entkommt. Auch heute nicht, da die Anmaßung nicht mehr im Aufwühlen des Erdreichs besteht, um dessen Schätze zu plündern, sondern in der Hybris, nachher idyllische Seenlandschaften formen zu wollen. Als wenn nichts gewesen wäre.

Nun versperrt ein Zaun den Concordiasee, wo die Seeperle vor Anker liegt. Lebensgefahr. Es bleibt nichts, als Nachterstedt in die andere Richtung zu be­gehen. Von der schnurgeraden Straße ­führen zu beiden Seiten weitere schnurgerade Straßen ab, gesäumt von gemütlichkeitstümelnden Doppelhäusern mit spitzen Giebeln und Kaninchenställen, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. In ihnen leben die beigefarbenen Leute seit Kindesbeinen und pflegen ihre Beete.

Nachterstedt ist ein seriell hergestelltes Idyll, das voller Widersprüche steckt, und voller Leichen im Keller. Auf dem Friedhof am Ende der Straße erinnern zwei Steinquader an die exhuminierten Toten des alten Nachterstedt. Es wurde abgebaggert und mit ihm seine Gräber, als in den dreißiger Jahren das neue Nachterstedt errichtet wurde, eine NS-Siedlung aus einem Guss. Die hundert sowjetischen Zwangsarbeiter, die während dieser Zeit im Tagebau umkamen, liegen nicht hier. Sie wurden auf der Abraumhalde verscharrt. Die Halde säumt den Concordiasee. Wären sie aufgewacht, um auf der Gedenkstätte ihrer namenlosen Gebeine zu spuken, hätten sie der Seeperle zusehen können, die über den Concordiasee schipperte. Jetzt liegen sie nur wenige Meter von der Erdrutschkante entfernt. Sie könnten den Geistern der jüngst Verschütteten gute Nacht sagen. Im Tod sind sie gleich. Das rotweiße Absperrband schützt die Ruhe beider.

Die beigefarbenen Rentner stehen noch immer vor dem Blumenberg und reden. Über die Katastrophe von Nachterstedt mit ihren drei Toten.

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