Phantom der Mauer

Wandel Klaus Wowereit eröffnet das „Gedenkjahr 20 Jahre Mauerfall“ und ein Mann mit Baskenmütze erklärt die Synthese Ost-West. Ein abendlicher Besuch am Potsdamer Platz

Das ultimative Gedenkjahr ist da, und man merkt es kaum. Vielleicht weil der Schnee aus dem vergangenen Jahr noch auf den Straßen liegt, vielleicht, weil die geschichtsträchtigen Termine sich später im Jahr zu Knäueln ballen. Da gibt sich Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit einen Ruck und eröffnet schon mal das „Gedenkjahr 20 Jahre Mauerfall“. Es ist kalt am frühen Abend auf dem Potsdamer Platz, wo, wie eine Kommandobrücke ohne Schiff, eine rote Tribüne aufgebaut ist. Wer Gedenken will, braucht einen Ort, und da die Mauer nicht mehr steht, kann der Gedenkende nun diese rote Treppe besteigen – und blickt auf die Mauer. Nein, an die Mauer erinnert nur ein schmaler Streifen auf dem Asphalt. Der Gedenkende blickt über die Stadt oder besser gesagt, in den dichten Stadtverkehr.

Wowereit macht es kurz, denn ihn fröstelt, er formt ein paar Worte. Von der Bedeutung der Geschichte, die spürbar werde, überall dort, wo die Mauer stand. Dass die Mauer, in der Euphorie weggepickelt, abgetragen und in alle Welt verkauft, nun möglicherweise fehlt, um ihrer zu gedenken; aber gedenken sollte man auch besser des Zusammenwachsens, des Wandels, der gewaltigen Leistungen – und wieder findet er Worte, die vom Gemeinsamen und der Zukunft handeln und von den Neubauten der vereinigten Stadt. In Wirklichkeit sagte Wowereit das meiste davon etwas später, in geschlossenen Räumen am Marlene-Dietrich-Platz. Denn bei diesem Wetter erlebt auch der Bürgermeister die neue, vereinigte Stadt am liebsten bei Zimmertemperatur.

Der Potsdamer Platz, ein Experiment

Das Zentrum des „Gedenkjahrs 20 Jahre Mauerfall“ ist aber nicht Wowereit, sondern die rote Tribüne, in deren Inneren ein Endlosfilm über die Mauer läuft. Von hier aus werden im Sternschritt Exkursionen in die Stadt unternommen, dorthin, wo Wowereits Wandel sichtbar wird. Zuerst wird des Potsdamer Platzes gedacht. So steht am folgenden Samstagnachmittag im Zeichen des großen Besinnungsjahres eine Gruppe von Menschen in dicken Jacken vor Renzo Pianos Musical Theater und blickt erwartungsvoll einen hoch gewachsenen Herrn mit Baskenmütze an. „Wo war die Mauer?“, fragt eine Dame, die das Konzept des Gedenkens falsch verstanden hat.

Ein Windstoß fegt Schneeflocken um die Passanten mit ihren Rosewater’s-Tüten, die Samstagnachmittag-Shoppingstimmung bildet einen warmen Kokon um sie, und die Kälte ficht sie nicht an. „Der Potsdamer Platz“, hebt der Baskenbemützte an, „war ein Experiment. Eine lebendige Stadt, aus der Retorte, am Reißbrett geplant, auf einem Stück Mauer-Ödland mitten in Berlin.“ Und während die Gruppe über die alte Potsdamer Straße stapft, deren neue, terrakottafarbene Häuser einen seltsamen Kontrast zu den alten Bäumen bilden, gibt er diesen Satz zum Besten, der so gut zum Gedenkjahr passt: „Das Schöne am Potsdamer Platz ist: Er ist nicht Ost und nicht West. Er ist etwas Gemeinsames.“ Es klingt so authentisch, dass man es fast glaubt. „Ist es nicht auch was Synthetisches? Das Gemeinsame?“, fragt eine Mittvierzigerin, die „richtigen“ Berliner sähe man hier ja fast nie ... „Synthetisch“ pariert der Führer „hat mit ‚Synthese‘ zu tun.“

Die Gruppe biegt in die Potsdamer Arkaden, Wärme umfängt sie wie im Tropenhaus. Man ist versucht, das Gedenken zu unterbrechen, um ein paar Sushi vom Band zu stehlen oder dem Vater zuzuhören, der dort mit seinem Sohn sitzt und ihm eben erklärt, was ein Tintenfisch ist. Vielleicht ist er kein Berliner, sondern stammt aus der Uckermark, vielleicht ist die Synthese aus Ost und West Tropenwärme, ein Oktopus und ein Vater aus Boizenburg. Als die Tour wieder an der roten Gedenkbox ankommt, läuft drinnen der Mauerfilm. Davor drängen sich die Berliner und sprechen leise mit: „Bornholmer Straße.“ „Sonnenallee.“ „Landwehrkanal.“

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