Ein mageres Mädchen mit Schäferhund spricht vor einem Berliner Kaufhaus einen Kunden an: "Hast du mal einen Euro?" Kunde: "Ich vergebe nur einen Euro am Tag, dem ersten der mich fragt. Du kommst zu spät." Bettlerin: "Was kann ich dafür, dass die andern so früh anfangen? Ich komme immer erst um drei. Du benachteiligst die Spätschicht." Kunde: "Was kann ich dafür, dass ihr immer mehr werdet? Schichtsystem! Ich vergebe einen Euro, fertig." Besinnt sich. Gibt der Bettlerin 50 Cent. Geht davon. Keine Statistik gibt Aufschluss darüber, wie viele Bettler täglich in der Stadt tätig sind. Doch sie sind zahlreich. Schon früh am Morgen werden die ersten freiwilligen Beiträge zur informellen Sozialsicherung eingetrieben. Und mancher Passant ist genervt. Nicht von allen Schnorrern, aber von denen, die für ihr Geld nichts tun. Sitzbettler mit Pappschildern stehen nicht hoch im Kurs, zumal, wenn sie bei der Arbeit schlafen, ausnüchtern oder von drogenbedingten Grenzerfahrungen in Anspruch genommen sind. Ein Bettler im klassischen Sinne bezieht seinen "Lebensunterhalt ohne dingliche Gegenleistung aus seiner Umwelt", heißt es. Doch das bedeutet keineswegs, dass der Bettler nichts zu leisten oder zu geben hätte, will er in der Welt bestehen. Betteln ist ein Handwerk. Es wird der geschätzt, der seinen Job gut erledigt.
Im Mittelalter beispielsweise erbrachte der Stand der Bettler eine unverzichtbare Dienstleistung - und wurde deshalb gesellschaftlich anerkannt. Er verhalf den sündigen Reichen zur Rettung ihrer Seelen, indem er sich zur Verfügung stellte, bei Bedarf Barmherzigkeit an ihm zu üben. Deshalb lungerten die Bettler jederzeit griffbereit vor der Kirche herum - in professionell leidender Pose. Und der Reiche konnte im Vorbeireiten gute Taten vollführen. Zwar untergrub die Armenpolitik der Neuzeit diese Stellung der Bettler, denn sein Almosen entrichtete man nun mit der Steuer. Doch wenn die Zeiten schwerer werden und die staatlichen Sicherungen versagen, sind die Bettler wieder gefordert. Schnorren ist erlaubt, doch bei wachsender Zahl der Geldeintreiber steigen die Ansprüche der Kunden. Gegenleistungen werden erwartet. Heute wie damals bestehen sie in kleinen Dienstleistungen, gerne auch im ideellen Bereich. Die Leidensnummer ist passé, entbehrt die Leistung "Seele retten" doch mittlerweile der Nachfrage. Frauen mit Kopftüchern, die unter Klagen die hole Hand ausstrecken, rufen Widerwillen hervor. Innovative Bettler wenden der Zeit angepasste Methoden an. Sie müssen es verstehen, den Passanten ein gutes Gefühl zu geben, ihnen helfen, trotz der Krise den Glauben an sich und die Welt nicht zu verlieren. Auf einem Spaziergang durch die Hauptstadt begegnen uns oft erfolgreiche Bettler.
Ein verschwitzter junger Mann, in einem fast weißen Hemd mit verstrubbelten Haaren steht mitten auf einem Radweg und breitet weit seine Arme aus. Er strahlt: "Anhalten, ein Euro." Fuß vom Pedal. "Wofür willst du einen Euro?" "Siehst du das Bild?" Vor dem Eingang der Post lehnt ein Gemälde. Es stellt in gelb die kindlich gemalten Umrisse einer Blumenvase dar, daneben drei blaue Böller. Pflaumen vielleicht. Ein Stillleben. "Dafür soll ich dich bezahlen?" "Nein", sagt er freundlich. "Du sollst dafür bezahlen, dass ich besser werde. Ich habe, glaube ich, meinen Stil noch nicht gefunden. An der Technik muss ich auch noch arbeiten." Daniel ist ein 26-jähriger Gelegenheitsbettler, der täglich drei bis vier Stunden arbeitet. Er ist erfolgreich. Den hetzenden Menschen, die in ständiger Angst leben, nicht zu genügen, zeigt er ein sympathisches Bild von Unzulänglichkeit und Bescheidenheit. Daniel lächelt tröstend und versichert: Unvollkommenheit ist möglich. Entscheidend für Daniels Auftritt ist das strahlende Lächeln und das Tragen des fast weißen Hemdes. Der Passant sieht, auch wenn ein Mensch den hohen Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann, ist es ihm dennoch möglich, regelmäßig sein Hemd zu wechseln.
Auch weniger gut gekleidete Euro-Sammler haben ihre ideelle Funktion in der Stadtgesellschaft. Der 28-jährige Piotr setzt im Gegensatz zu Daniel nicht auf eine gepflegte äußere Erscheinung. Im Gegenteil. Das schwarze verwaschene T-Shirt ist schon zerschlissen, auch die Hosen sind nicht mehr intakt. Die Füße stecken in Militärstiefeln. Er ist braun gebrannt vom Arbeiten an der frischen Luft, der Kopf ist kahlrasiert bis auf einige Rastasträhnen, die ihm ins Gesicht baumeln. In diesem Aufzug putzt er Autofahrern, die an der Ampel anhalten ihre Windschutzscheiben. Wer will, bezahlt. Sie sind zu fünft und wechseln sich ab. Piotr ist in diesem Sinne nicht Bettler, sondern arbeitet in einem selbst geschaffenen Dienstleistungsjob. Doch auf die Frage hin, wofür die Fahrer ihn bezahlen, sagt er: "Sie bezahlen, weil sie sich freuen, dass deutsche Punks arbeiten." Piotr ermöglicht den Glauben daran, dass die Ausgegrenzten, die Verlorenen, die Aussteiger und Müßiggänger in die Arbeitsgesellschaft zurückkehren könnten. Piotr sagt: "Es ist wichtig, dass die Autofahrer glauben, wir seien deutsche Punks." Deutschlands verlorene Söhne, die nach Hause kommen. Weil die meisten von der Putztruppe aber aus Polen, Estland, Lettland und Litauen kommen, vermeiden sie beim Arbeiten Gespräche in der Landessprache.
Speedy ist ein sehr junger Bettler, der den Standort U-Bahneingang Rosenthaler Tor besetzt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er sanftmütig zu jedem Passanten, der vorübergeht. Viele sehen ihn dafür wütend an. Speedy, der 19 Jahre alt ist und aus Essen stammt, beeindruckt das überhaupt nicht. Weshalb er nicht einfach stillsitzt und abwartet, was er bekommt? "Man muss die Leute gut ansprechen", sagt er und es hört sich ein bisschen so an, als hätte er das in einer Schulung für Versicherungsverkäufer gelernt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er wieder. Man darf Speedy nicht allzu viel von seiner Zeit stehlen. Zeit ist Geld. Eine Frau mit Einkaufstasche bleibt vor dem blassgesichtigen Speedys stehen und erklärt, sie habe "das hier schon vorbereitet". Sie bückt sich und wirft einen Euro in den Bettelplastikbecher. "Ich habe mir das hier lange aufgebaut", sagt Speedy. In vier Jahren am gleichen Ort hat er das Vertrauen der Leute gewonnen. Wieder eine Frau, die grüßt und spendet. Speedy nickt gnädig. "Viele haben keine Kinder", sagt er. "Die sehen in mir ihren Sohn oder sowas." - "Bleibt alle schön gesund." Pling, wieder 50 Cent. Speedy profitiert davon, dass immer mehr Frauen Kinder und Karriere nicht mehr verbinden können. Oder dass Frauen zwar Kinder haben, diese aber aus dem Haus gegangen sind und nun, einsam ihr Leben meisternd, ihnen ihre einst verausgabte Mutterliebe in keiner Weise zurückbezahlen. Der Generationenvertrag: gebrochen. Speedy hat für die enttäuschten Frauen ein gutes Wort: Bleib gesund, Mutti.
Kazimir ist ein Mann schwer schätzbaren Alters, der in einem roten Kaisergewand durch Berliner Gaststätten zieht. Der Kneipengast erkennt ihn am Ton einer Fahrradhupe, die er betätigt, wenn er ein Lokal betritt. Er führt ein Zepter mit sich, schreitet souverän durch den Raum und lächelt gütig, aber unnahbar. Meist spricht er nicht viel. Kazimir ist keineswegs verrückt, sondern ein höchst talentierter Bettler. Er selbst versteht sich als Künstler und seinen Auftritt als Dienst an der Gesellschaft. Vor einigen Jahren tauchte der kleine Mann mit hellen, wachen Augen als Verkäufer einer Obdachlosenzeitung auf. Er überraschte seine Kollegen und Kunden, indem er plötzlich begann, die Zeitung im sackleinernen Bettlerkostüm an den Mann zu bringen. Andere obdachlose Verkäufer versuchten den professionellen Verkäufer zu mimen und scheiterten: Die Sprache verrät den, der sie nicht spricht, sofort: "Guten Tag die Damen und Herren, ich verkaufe die neueste Ausgabe der hochinteressanten ..." Sofort wird die Selbstverleugnung des Verkäufers spürbar. Niemand mag das. Kazimir hingegen stand selbstbewusst im Bettlerkittel vor seiner Kundschaft, hielt seine Zeitung hoch und schwieg. Er strahlte nicht weniger, sondern mehr Würde aus als die anderen. Dass er schließlich das Bettlergewand gegen das kaiserliche austauschte, war folgerichtig: Er verlieh sich selbst einen Würdegrad. Kazimir verkauft Zeitungen, verteilt Blumen an die Damen oder sammelt einfach Spenden. Er steht dafür, dass ein Mensch, der aus der arbeitenden Gesellschaft heraus gefallen ist, stur auf Respekt besteht. Die Leute goutieren dies. Kazimir ist sehr beliebt und sehr erfolgreich. Er soll, so erzählen Kneipengäste, einer der reichsten Obdachlosenzeitungsverkäufer und Bettler von Berlin sein.
Michalina singt für ihre Kundschaft ein Lied. Sie singt es am Ausgang einer Unterführung am Alexanderplatz. Wer den schlecht beleuchteten Gang mit der zu niedrigen Decke passiert, dem dringt ihr Lied ans Ohr, das mit reiner, hoher Stimme vorgetragen wird. Wo es schon heller wird, steht Michalina, eine kleine, schmale, blondgelockte Erscheinung im kurzen Rock. Sie steht kerzengerade auf Plateausandalen. Ein elektronisches Klavier hängt ihrem Gesang etwa einen halben Ton hinterher. Die 20-jährige Michalina und der 44-jährige Jacek musizieren gerade eine Endlosschleife. Als sie nach einer halben Stunde eine Pause machen, erzählt Michalina, Jacek allein habe einen ganzen Tag gebraucht, um 30 Euro einzuspielen. Zusammen haben sie den selben Betrag bereits in zwei Stunden eingspielt. Michalina ist gerade aus Polen gekommen. Gestern. Jetzt sucht sie Arbeit in Deutschland. Vielleicht als Sängerin, sie habe Talent, sagt sie. Sie sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Instrumentenkoffer, als wäre das ihr Reisegepäck und schlägt ihre Sterntaleraugen auf. Man überlegt einen Moment, ob man sich nicht dringend Sorgen um sie machen soll. Gleich wird sie sich wieder hinstellen und unbeirrt weitersingen, in das widerhallende Dunkel hinein: "Dream a little dream of me." Michalina symbolisiert Hoffnung. Stellvertretend für alle Passanten glaubt sie fest an ihre Chance in einer rauen Wirklichkeit, allem zum Trotz. Ein kleiner Traum. Den bezahlen die Leute. Und Michalina wird auf diese Weise in kurzer Zeit ein hübsches Startkapital für ihre Karriere beisammen haben.
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