Verschiebung

Berliner Abende "Guten Abend", sagte ich als Siebenjährige einmal am Frühstückstisch zu meiner Mutter. Ich wollte einen Witz machen, nur, dass es bei Kindern ein ...

"Guten Abend", sagte ich als Siebenjährige einmal am Frühstückstisch zu meiner Mutter. Ich wollte einen Witz machen, nur, dass es bei Kindern ein bisschen dauert, bis das Zentrum, das im Gehirn für Humor zuständig ist, richtig ausgebildet ist. Sie wissen in diesem Alter zwar schon, dass es Scherze gibt, haben aber noch keine Erfahrung mit Pointen. Meine Mutter hatte um diese Uhrzeit noch keinen Sinn für Humorversuche und sagte missmutig: "Es ist Morgen. Nicht Abend." "Und wenn es Morgen und Abend ist?", fragte ich neunmalklug. Meine Mutter stöhnte. Aus irgendeinem Grund ist mir diese Begebenheit nie aus dem Kopf gegangen.

Ich wuchs heran, zog von einer Stadt in die andere, zog schließlich nach Berlin, und endlich, in der vorigen Woche habe ich meine Mutter widerlegt. Menschen, die meinen, es könnte immer nur entweder Tag oder Nacht, Nachmittag oder Vormittag, Morgen oder Abend sein, liegen falsch. Gestern fiel es mir zum ersten Mal auf: In meiner Welt war es morgens um sieben Uhr, und ich fuhr mit der U1 Richtung Arbeit. Ich war ziemlich verpennt, weil ich sonst fast nie um diese Zeit zur Arbeit fahre und versuchte, die Zeitung zu lesen. Dabei fühlte ich mich durch ein Gespräch von zwei Frauen gestört. Die eine hielt eine Bierflasche und sagte: "Und der Typ so, zu mir, du hast ja keine Ahnung, und ich so, ich hab da echt kein Bock drauf, und er, wenn du jetzt so ne Scheiße durchziehst mit so´m Eifersuchtsfilm, und ich so, Eifersucht?"

Die andere trug hohe Stiefel und nickte einfühlend. Ich war verwundert darüber, dass sie den Zusammenhang dieser Ausführung so problemlos verstanden hatte und zugleich verärgert, weil die Freundin mit Bierflasche sehr laut gesprochen hatte. So früh Morgen in der U-Bahn erwarte ich, dass man in Ruhe seine Zeitung lesen kann. Die Freundin mit den hohen Stiefeln sprach nun, ebenfalls sehr laut, über Männer und ihre Probleme mit selbstbewussten Frauen und von Erlebnissen, die andere Freundinnen und sie selbst mit derart gelagerten Männern gemacht hatte. Es endete jeweils mit dem weiblichen Befreiungsschlag. Diesmal war es die Freundin mit Bierflasche, die immer einfühlend nickte.

Dann war es einen Augenblick still. Das Thema schien erschöpft. Um den Auftakt zu einer neuen Gesprächsequenz zu setzen, wühlte die Freundin mit den hohen Stiefeln nun in einer Umhängetasche, murmelte etwas von einem "Absacker" und zog eine Dose Cola-Rum heraus. Da begriff ich, dass den beiden nicht der geringste Vorwurf zu machen war, denn sie befanden sich nicht, wie ich, in der Bahn zur Arbeit, sondern eigentlich noch am Kneipentresen, und sie brüllten so laut, weil sie die ganze Nacht gegen die Musik angeschrieen hatten. Ich sah um mich und bemerkte, dass die meisten anderen Fahrgäste, ähnlich wie die beiden Frauen, aufgekratzt und zugleich übernächtigt aussahen, ihre letzten alkoholischen Getränke zu sich nahmen und vorübergehend ausgedrückte Zigaretten in der Hand hielten.

Plötzlich fühlte ich mich deplatziert mit meiner Zeitung. Eben wie jemand, der zur falschen Tageszeit die falschen Dinge tut. Zum Beispiel "guten Abend" sagen, wenn er sich an den Frühstückstisch setzt.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden