Bewegtes Festsitzen Auf, nach Europa! Business machen! Das ist der Traum vieler Ukrainer. Auch Olena Sydorenko hat sich auf den Weg gemacht. Die Geschichte eines kollektiven Irrtums
Zur Zeit träume ich oft einen Traum", sagt Olena Sydorenko*: "Ich komme nach Hause, und alle fragen mich: Olena, du warst so lange fort, erzähle! Und ich habe nichts zu erzählen." Ihre Stimme breitet einen warmen Klang aus, selbst wenn sie leise spricht. Als wäre ihr leicht fülliger Leib ein Resonanzkörper wie ein Gitarrenbauch. Sie muss morgen nach Hause fahren, sie will nicht, aber es geht nicht anders.
Alles begann, als Olena glaubte, dass ihr eine Zukunft zustehe. Das war vor sechs Jahren. Sie lebte in der ukrainischen Stadt Ternopil, war 34 Jahre alt und hatte sich eben in Sergej verliebt. Vor Monaten hatte sie ihren Job als Erzieherin verloren und arbeitete nun auf einem Gemüsemarkt. Sie kam über die Runden. Der Familie gehört ein Feld, wo
Feld, wo Kartoffeln und rote Beete wachsen und der Ertrag ihrer Arbeit reicht für Brot, Zucker und Tee. Sie hat ein Dach über dem Kopf - mit der Mutter und der 18-jährigen Tochter bewohnt sie eine kleine Neubauwohnung. Aber es reicht nicht, um das Leben in Bewegung zu bringen. Olenas Mutter sagt, die Jungen in der postsowjetischen Zeit seien ruhelos geworden. Auf nach Europa! Auf, Business machen! Immer auf, irgendwohin. Olena sagt: Ich will aus der Enge der Wohnung raus. Sie fasst den Plan, den ein Fünftel aller Ukrainer fassen: Eine Hypothek auf die Gegenwart aufzunehmen und zwei, drei Jahre einem Hilfsjob im Ausland zu opfern - für eine Zukunft zu Hause, später. Sie will für sich und Sergej eine Eigentumswohnung kaufen, die umgerechnet rund 15 000 Euro kostet und sie will, dass ihre Tochter studiert. Olena hat sich für Deutschland entschieden und möchte, dass Sergej mit ihr kommt. Sergej zögert, weil er weiß, dass sie für Deutschland kein Visum bekommen. Aber Olena will, dass ihr Leben weitergeht. Egal, wie. Olena sitzt aufrecht, wenn sie spricht. "Ich hab es leichter als Sergej", sagt sie und lächelt, "weil ich leicht Menschen kennen lerne." Sergej, kurzgeschoren, blauäugig sitzt neben ihr auf der Couch und nickt kurz. Sergej und Olena leihen sich je 2000 Euro für gefälschte, polnische Pässe und die Fahrt nach Berlin. Am Morgen wird Sergej von einem polnischen Fahrer abgeholt, am Nachmittag hält ein Auto für Olena. Sergej erreicht tags darauf Berlin. Als Olena die deutsch-polnische Grenze passieren will, erkennt der Beamte das falsche Dokument und Olena wird ins Abschiebegefängnis der Grenzstadt Slubice gebracht. Das Gefängnis ist voller Frauen, nur wenige Insassen sind Männer. Sie fröstelt, weil sie nur ein T-Shirt trägt und schaudert, weil sie noch nie in einer Haftanstalt war. Und dann hört sie - sie hört sie tatsächlich - Frauenstimmen, die ukrainische Volkslieder singen wie auf einer Hochzeit. Sie wird zu ihnen in die Zelle geschlossen. Erst schweigt sie, dann singt sie mit. Nach zwei Wochen werden die Frauen in einem fensterlosen Lastwagen zurück zur polnisch-ukrainischen Grenze gefahren. Es ist also keine gerade Bahn, die in die Zukunft führt, aber jetzt muss Olena weiter, weil sie Schulden hat. Sie leiht sich nochmals Geld. Diesmal lässt sie keinen Pass fälschen, sondern bezahlt dieselbe Summe, um sich schleusen zu lassen. Vier Monate später ist es wieder soweit. Ein Ukrainer fährt sie nach Polen, wo sie ihrem Schlepper übergeben werden soll. In der Nacht setzt er sie vor einem Mietshaus in der Peripherie einer Stadt ab, und ein anderer Mann, ein Pole, nimmt sie in Empfang. Er spricht nicht mit ihr, sondern bedeutet ihr, mitzukommen, bringt sie in seine Wohnung und lässt sie allein. Tags danach kommt er wieder - und wieder zieht die Tür wieder hinter sich zu, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. So geht es mehrere Wochen lang. Wieder steckt Olena in einer Neubauwohnung fest, nur 1.000 Kilometer westlich von zu Haus. Der Strom ist abgestellt, sodass sie ihr Handy nicht aufladen kann, und irgendwann keimt in ihr die fixe Idee, der Mann könnte ein Killer sein. Hinter dem Haus beginnen schneebedeckte Felder. Irgendwo da draußen sieht sie sich verscharrt. Weil sie nichts anderes tun kann, beginnt sie, Informationen über den Mann zu sammeln. Wie eine Detektivin durchsucht sie seine Habe, immer auf der Hut, keine Spuren zu hinterlassen. Notiert Namen und Telefonnummern, steckt ein Foto ein. Sie legt einen Keil in die Tür, verlässt die Wohnung und streift durch die Stadt. Gorzów heißt sie. Auf einem Markt trifft sie ukrainische Händlerinnen. Ihnen vertraut sie sich an und gibt ihnen ihre gesammelten Informationen. Am Abend sagt der Mann zu ihr: Wir fahren. Er fährt sie in einen Wald, aber statt etwas Schreckliches zu tun, übergibt er sie einem anderen Mann, der am Straßenrand mit einem Kleinbus parkt. Der Bus besitzt einen Hohlraum zwischen Decke und Dach, in dem PCs gestapelt sind und nur ein winziger Platz ist für Olena frei. Sie kann sich nicht vorstellen, da hinein zu passen. Sie klettert hinein. Der Bus startet, es wird stockdunkel und die Luft wird knapp, sie hat Angst zu ersticken, denkt an Geschichten von Leuten, die erstickt sind, was fühlt man kurz bevor man erstickt, wie hoch sind die Berge der Krim, wie groß ist der Aralsee, welche Flüsse fließen in den Dniestr? Und irgendwann bremst der Bus. Sie klettert hinaus. Sie denkt: Luft! Dann denkt sie: Das Abenteuer ist ausgestanden. Jetzt kann es losgehen.Wenn Olena sich beim Erzählen erregt, errötet sie leicht. Sie ist ein heller Typ, blond, rosige Wangen. Sie sagt, die Zeit, die nun vor ihr lag, habe sie sich wie einen sehr langen, harten Arbeitstag vorgestellt, einen, den man durchstehen muss, die Zeit dabei vergisst und erst am Feierabend kommt man wieder zu sich und weiß, wofür man geschuftet hat. Es kommt anders. Olena bekommt einen Putzjob in einer Spielothek - für zwei Stunden am Tag. Den Rest der Zeit verbringt sie im Haus. Sergej und sie bewohnen mit elf anderen Illegalen eine 3-Zimmer-Wohnung in einem Abbruchhaus in Berlin, Wedding. Schlimm ist nicht die Enge. Schlimm ist, dass sich wiederum nichts bewegt. Sie denkt an ihre Mutter - so hat sie sich die ruhelose Jugend wohl kaum vorgestellt. Olena hat das Gefühl, wieder fest zu sitzen. Sie will nicht hinaus, draußen taumelt sie wie im Irrgarten, kann Schilder nicht lesen, nimmt U-Bahnen in die falsche Richtung. Das erste Jahr geht vorbei, als hätte es das Jahr kaum gegeben, und mit ihren Einnahmen kann sie ihre Ausgaben decken, mehr nicht. Dann gelingt Olena das, was man den Durchbruch nennen könnte. Sie lernt Hanna kennen. Hanna ist jüdische Russin, wohlhabend, lebt seit fast 20 Jahren in der Stadt, und unterhält einen riesigen Freundeskreis. Russen, Deutsche, auch Iraner sind darunter. In Hannas Haushalt gelangt sie, indem sie eine erkrankte ukrainische Bekannte vertritt, die dort putzt. Und weil sich Hanna mit Olena gut versteht, darf sie wiederkommen. Und dann empfiehlt Hanna sie an Natascha und Tatjana weiter und Tatjana empfiehlt sie an Kateryna. Olena wühlt in ihrer Ledertasche und fördert einen Schlüsselbund zu Tage, so dick wie der eines Hausmeisters, der eine ganze Wohnanlage betreut. Wenn sie ihn schwenkt, klingelt es. Olena mag das Geräusch. Jeder Schlüssel ist eine geöffnete Tür. Dahinter liegen russische Wohnungen mit dicken Teppichen, schweren Möbeln und tausenderlei Döschen und Flakons vor Badezimmerspiegeln - und deutsche Wohnungen, die im Vergleich zu den russischen halbleer sind und die Wände nackt. Zwischen diesem dichter werdenden Geflecht von Wohnungen bewegt sie sich nun, ihre Bahnen durch die Stadt bekommen eine Richtung, ihre Gänge einen Takt. Sie verdient nun mehr als Sergej, der für eine türkische Firma Prospekte verteilt. Und erstmals kann sie etwas zurücklegen, um Schulden zu bezahlen. Sie ist stolz und beginnt, erstmals seit zwei Jahren wieder an die Zukunft zu denken.Dennoch ist es, als wäre diese Zeit in Watte gehüllt. Vom ersten Tag an haben andere Ukrainer ohne Papiere sie gemahnt, die Stimme zu senken. "Weshalb?", hatte Olena gefragt. Welchen Sinn habe es, flüsternd durch die Stadt zu gehen? Bald wusste sie, dass nicht alles Sinn ergibt, was die Illegalen aus Vorsicht tun. Doch es verstärkt das Wie-in-Watte-Gefühl. Die Gewissheit, dass man nicht jetzt lebt, sondern vielleicht irgendwann später.Im dritten Jahr verdient Olena rund 1.500 Euro im Monat, und weil sie sparsam lebt, gelingt es ihr, fast die Hälfte zurückzulegen. Davon schickt sie einen Teil nach Hause für das Studium der Tochter, den Rest spart sie an. Würde eine kleine Eigentumswohnung in Ternopil noch ebensoviel kosten wie am Tag ihrer Abreise, müssten Sergej und sie noch zwei Jahre arbeiten. Da die Preise jedoch gestiegen sind, rechnen sie drei bis vier weitere Jahre aus. Um die Zeit etwas abzukürzen, arbeiten sie schneller. Olena erlernt Fertigkeiten, die man speziell für das Putzen russischer und deutscher Haushalte benötigt. Die Deutschen legen Wert darauf, dass im Bad die Armaturen glänzen. Die Russen haben viele Sonderwünsche und wollen, dass man alle Dosen und Flakons einzeln poliert und anschließend wieder exakt so anordnet, wie sie waren - im Halbrund oder als Pyramide wie in der Vitrine eines Geschenkartikelgeschäfts. Olena bringt es zur Perfektion. "Ich bin Profiputzfrau", sagt sie stolz. Sie verwendet grundsätzlich ihre eigenen, hochwertigen Putzmittel, weil es sich unterm Strich rentiert, sie lernt, auf einen Blick abzuschätzen, wie viel Zeit die Reinigung welcher Räume erfordert. "Meine Kunden sind es gewohnt, mir den Schlüssel zu überlassen, und alles geht wie von selbst." Olena spricht nun von "ihren" Wohnungen. Und fast so, als lebte sie in ihnen, kennt sie jedes Detail. Manchmal rufen ihre Auftraggeber sie an, um zu fragen, wo ihr Pass oder ihre Ersatzbrille liegt. Meist weiß sie es.Nun steckt Olena nicht mehr in der Enge einer Behausung fest, sondern spukt wie ein Geist durch Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küchen. Und am nächsten Tag von vorn. Eine Welt von Zimmern. Am Abend sieht sie mit Sergej russische Videos in gedämpfter Lautstärke an. Das Wie-in-Watte-Gefühl ist wieder da. Es ist nun das sechste Jahr in Berlin, und der Beginn der Zukunft hat sich nach ihrer jüngsten Berechnung wieder ein Stück nach hinten verschoben. Die Immobilienpreise in Ternopil haben sich mittlerweile verdoppelt. Nicht unwesentlich, weil Tausende andere Olenas und Sergejs mit derselben Idee einer besseren Zukunft im Ausland arbeiten waren. Es herrscht ein Bauboom in Ternopil. "Sie kaufen und bauen wie die Blöden, Mama", sagt die Tochter am Telefon. "Sogar ins beste Ackerland bauen sie hinein. Sie sind irre geworden." Olena überlegt, ob die Ternopiler irre sind. Und ob es irrsinnig ist, was sie selbst will. Aber noch unsinniger kommt es ihr vor, jetzt abzubrechen. "Wir sagen uns, wir machen weiter", sagt sie und fasst Sergej an der Hand. "Zwei Jahre noch. Sonst wäre es ja so, als seien wir überhaupt nicht vom Fleck gekommen. Olena lächelt. Sergej nickt kurz. Beim nächsten Treffen lächelt Olena nicht. Sie sieht besorgt und müde aus. Sie sagt, sie habe ihre Schlüssel abgegeben, sie sei krank. Es ist etwas ernsteres, und weil sie in Deutschland nicht krankenversichert ist, muss sie in die Ukraine zurück. Sie brechen ihren Aufenthalt in Berlin ab. Sie werden sich schleusen lassen, erst Olena, dann Sergej, das Geld ist schon bezahlt. Es werde schon klappen, sagt sie. Ohne Papiere aus dem Schengenraum hinaus zu gelangen sei leichter als hinein - sie wird in einer Plastiktasche reisen. Was Olena quält ist, dass sie keine Zukunft haben wird. Wer "Zukunft" sagt, meint, dass man eins auf das andere baut. Dass man morgen auf etwas stolz sein kann, was man heute geleistet hat. "Wir werden über die Runden kommen", sagt Sergej. "Es fehlen sechs Jahre in meinem Leben", sagt Olena. Sie kann schlecht schlafen, da ist immer dieser Traum: Sie kommt nach Hause, und alle fragen, Olena, du warst solange fort, erzähle. Und sie hat alles vergessen. Sie öffnet den Mund, aber man hört keinen Ton.Vor einer Woche ist Olena abgereist. Sie sollte eine SMS schicken, wenn sie gut angekommen ist. Bis jetzt ist noch keine SMS angekommen.* Name von der Redaktion geändert
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