Geheimtipp Auf einer Erkundungstour in die unbekannte Peripherie Istanbuls lernt der geneigte Reisende, was es heißt in der türkischen Metropole ein Leben hinter Mauern zu führen
Es gibt Orte, da muss der Name nur fallen, und alle lächeln, als hätten sie eine wunderbare Nachricht erhalten. Istanbul gehört zu diesen Orten. Istanbul, seine engen Gassen, die blaue Moschee. Stadt der Gegensätze. Stadt zwischen Europa und Asien. Kaum ein Ort wartet mit so eingängigen Bildern auf wie diese Stadt, die auf zwei Erdteile gebaut ist und stellvertretend für zwei Welten und den größten Kulturkampf unserer Epoche steht. Und in der Mitte, zwischen den Welten, fließt der Bosporus. Mit seinen Wellen, seinen Schiffen und seiner Luft wie am Meer.
Es ist zehn Uhr morgens, die Reisegruppe aus Berlin steht am Bosporus, atmet die Salzluft, genießt das Istanbul-Gefühl und blickt hinüber nach Asien. „Was lässt sich
sich über die asiatische Seite des Bosporus sagen?“, fragt eine Frau. Der Fremdenführer Orhan Esen – Historiker, Stadtforscher und Pendler zwischen Berlin und Istanbul – legt die Stirn in Falten und erwidert: „Was würden Sie über die andere Seite der Spree erzählen?“ In Esens Augen teilt sich Istanbul nicht in eine „europäische“ und eine „asiatische“, sondern in eine bekannte und eine unbekannte Stadthälfte. Letztere ist das Ziel der heutigen Tour.Außen Zaun, innen KollektivEine Stunde später hat die Reisegruppe den Bosporus überquert – nicht mit dem Schiff, sondern mit dem Bus. Was wir besichtigen werden, ist nur über Autobahnen zu erreichen. Die Sonne brennt auf das Blechdach, die Autos bewegen sich im Schritttempo. Auch ein Istanbul-Gefühl: Das Gefühl der meisten Istanbuler, wenn sie zur Arbeit fahren. Der Bus stoppt. „Sehen Sie nach rechts“, sagt Esen. Eine Mauer, stacheldrahtbewehrt, überragt von einer Villa mit vier Stockwerken. Sie steht auf einem weiten Rasen, kurzgeschoren wie Teppichboden. Hinter dem Anwesen ist ein weiteres zu sehen, dahinter das nächste. Man blickt in ein Tal, mit Villen bebaut, soweit das Auge reicht. Das ganze Tal ist von einer Mauer umgeben. „Acar“ ist auf einem Schild zu lesen. „Sie sehen hier die Acar-Republic, ein Bauprojekt, das auf nur einem einzigen Grundstück steht.“ Es ist 2.291.200 Quadratmeter groß und wurde von nur einem Mann gekauft und entwickelt. Der Mann heißt Acar.Es geht weiter. Esens Tour ins unbekannte Istanbul zeigt, was man gemeinhin als seine Peripherie bezeichnet. Allerdings ergibt dieser Begriff hier wenig Sinn. Der größte Teil der 13-Millionen-Einwohner-Stadt ist Peripherie. („Acar Republic“ wurde – wie viele Siedlungen ihrer Art in ein Landschaftsschutzgebiet gebaut. Erst nachträglich änderte der Bezirksrat gegen einen Obulus des Investors den Flächennutzungsplan. „Revisionsplaning“, nachholende Stadtplanung – nennt man das in Istanbul.)Der Bus rollt über den Highway, erst am frühen Abend wird er die Stadtgrenze erreichen, die Sonne glüht. Dennoch sind sämtliche Plätze des Busses belegt. Esens Touren ins unbekannte Istanbul sind beliebt, auch wenn sie den Ruf haben mörderisch zu sein. „Wenn die Touristen von der gewaltigen labyrinthischen Stadt am Bosporus schwärmen, in der sie sich die Füße wund gelaufen haben, haben sie meist keine Ahnung davon, dass sie immer nur ein Gebiet durchstreifen, das im Verhältnis zum Rest so groß ist wie ein Stecknadelkopf“, sagt Esen.Tatsächlich hat man nach einigen Stunden das Gefühl, nichts zu wissen. Über Istanbul, vielleicht auch über das Leben und den ganzen Rest. Wie Pilzkolonien schießen entlang der Autobahn Häuserformationen aus dem Boden. Hochhäuser, flache Siedlungen. Für Arme, für Reiche, für den Mittelstand. Fast alle umringt von Mauern, am Eingang je ein bewachtes Tor. Gebilde, die aussehen, als hätte jedes für sich entschieden, die Welt neu zu gründen. „Hier sehen Sie eine Gated Community, deren Investoren innerhalb ihrer Mauern den Boden kollektiviert haben“, sagt Esen in sein Mikrofon. Die Wohnflächen sind privat, die Gartenflächen gehören allen. Ein Blick über die Mauer zeigt, dass die Kommunarden entschieden haben, Familiengärtchen und Grillecken anzulegen.Stadt voller MöbelAnderswo kultivieren die Bewohner Schrebergärten. Und irgendwann gelangt die Reisegruppe in eine Gegend, in der niemand wohnt. Sie trägt den Namen Modoko. Die Straßen säumen einstöckige Gebäude, vor ihnen auf Terrassen stehen Tische, Regale und Couchgarnituren. „In diesem Teil der Stadt werden ausschließlich Möbel produziert – und verkauft.“ Eine Möbeldiscounterstadt, mauerumfriedet, und wie alles hier draußen, scheinbar endlos. „Wann erreichen wir die Getränkediscounter-Stadt?“, fragt einer. „Es gibt gleich Erfrischungen“, sagt Esen.Der Bus rollt sanft in eine Einfahrt. Evidea heißt die Parallelwelt, die die Gruppe nun betritt. Eine Empfangslounge wie in einem Hotel, klimatisiert. Klar, dass man sich am Empfangstresen anmelden muss. Nesli Kayali, eine junge Architektin, hat auf die Gruppe gewartet, sie führt in einen Garten. Er wirkt kühl, als wäre auch er klimatisiert, aber das liegt am frischen Gras und den Rasensprenklern. „Das Bauprojekt ist einzigartig“, sagt Kayali. Evidea ist als Hufeisen gebaut, die Fenster und Balkone weisen Richtung Garten. Die Nachbarn, erklärt Nesli Kayali, kaufen sich hier ein, um anders zu leben. Nicht nebeneinander, sondern miteinander. Es gebe Gemeinschaftsaktivitäten, Sport, Bildung, Geselligkeit. Ihre Rede wird eins mit dem silbrigen Rieseln des Rasensprengers, ein Swimmingpool liegt glatt und unberührt, von Liegen aus dunklem Holz umgeben. Darauf räkeln sich Frauen mit hohen Ansprüchen an die Gemeinschaft und sich selbst. „Kennen die Menschen aus Evidea auch Bewohner der Siedlungen ringsum?“, fragt ein Mädchen der Reisegruppe. „Nein“, sagt die Architektin. „Eigentlich nicht. Die vor dem Tor – das sind die draußen.“Noch weiter draußen liegt diese Stadt, die viele Istanbul nennen, in der es enge Gassen gibt und eine blaue Moschee.
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