Ich hatte vier Großtanten. Sie hießen Friedel, Els, Luise und Ruth. Sie hatten ihre Männer im Krieg verloren und führten ein beschauliches Leben. Ihr liebstes Spiel war "Scrabble". "Die kleine Partie Scrabbel" wurde im so genannten "Herrenzimmer" gespielt, das so hieß, obwohl ja gar keine Herren mehr vorhanden waren. Dafür gab es einen Käfig mit einem Kanarienvogel und einen Mahagonitisch, auf dem das Spielfeld arrangiert wurde. Auf die "kleine Partie" folgte stets eine zweite, dann eine dritte und so fort. Die Tanten spielten mit einer Sanduhr und schwiegen die meiste Zeit. Mein Bruder und ich hätten lieber mit ihnen "Risiko" gespielt, mit unseren Armeen Länder überfallen und die Weltherrschaft gesichert. Aber unsere weisen, etwas unnahbaren Tanten hielten davon nichts.
Sie liebten dieses Spiel, das ein arbeitsloser Architekt namens Alfred Butts während der Weltwirtschaftskrise in Amerika erfunden hatte. Butts war überzeugt davon, dass die Leute in so schweren Zeiten ein Spiel brauchten, das den Geist beschäftigte, aber keinerlei Aufregung verursachte. Der Architekt besaß eine Leidenschaft für Buchstaben, und so schuf er ein Spiel, das die Fragmente der Sprache - kleinste, verstreute, in Unordnung geratene Sinnstückchen - wieder zu einem Ganzen zusammenfügte. Obwohl Butts der Krise wegen Pleiten über Pleiten wegstecken musste und das Unterfangen zwischenzeitlich nicht den Hauch einer Chance besaß, glaubte er die ganze Zeit an seine Idee. Am Ende des Krieges war die Welt reif für Scrabble. Das Spiel reüssierte und wurde millionenfach in aller Welt verkauft. Die Menschen, die versuchten, ihre Kriegserinnerungen zu vergessen, oder die Tatsache, dass sie all ihr Geld oder ihre Männer verloren hatten, wühlten im Scrabblesäckchen und legten in kontemplativer Ruhe Wortkreuzungen aus "Osterhase", "Schützengraben" und "Beinamputation". Auch unsere Tanten ließen ihre Hände über die Scrabblebuchstaben gleiten und befühlten ihren ungeahnten Schatz an Möglichkeiten, Begriffe zu bilden, die in den Tiefen ihres Bewusstseins schlummerten.
Es war an einem Sonntag, als etwas Eigenartiges geschah. Die Tanten saßen gerade bei einer kleinen Partie, Luise fuhr den Teewagen ins Herrenzimmer und zwitscherte dem Kanarienvogel zu. Ruth legte das Wort "Zyste". Die Schwestern nickten anerkennend. Friedel legte an: "Eiterzyste". Das Wort "Eiter" ging über den doppelten Buchstabenwert. Nun war Els an der Reihe. Sie legte an: "Eiterzystenwarze". "Entweder Zyste oder Warze", sagte Ruth. Es entstand eine Pause. Die Schwestern sahen Els an. Els rührte sich nicht. Die Standuhr tickte. "Eiterzystenwarze", sagte Els schließlich trotzig. "Els, in einer Zyste befindet sich Eiter. In einer Warze aber nicht", sagte Ruth und versuchte, einen strengen aber sachlichen Ton anzuschlagen. Aber ihre Schwester schien sehr weit weg. Sie hatte ihren Unterkiefer ein bisschen vorgeschoben und starrte mit dunklen, unergründlichen Augen auf das Scrabble-Labyrinth. So blieb sie eine ganze Weile. Dann schrie sie plötzlich: "Es ist doch egal, wo der Eiter drin ist!" Sie hatte eine so unerwartet donnernde Stimme, meine kleine zarte Tante, dass ich mehr über diese Stimme staunte als über ihren Starrsinn. Sie hatte eine enorme Bühnenpräsenz. Ihr Kopf war ganz rot geworden, und es stand eine Zornesfalte auf ihrer Stirn. Der Kanarienvogel kippte von seiner Stange, die Schwestern zogen ihre Augenbrauen hoch und stellten die Teetässchen ab. Für einen Moment blitzte eine Ahnung in mir auf, was in Els alles stecken musste. "Es ist mir egal, egal, wo der Eiter drin ist", donnerte sie noch einmal, sprang dann auf, zerrte am Tischtuch, wobei das ganze Spiel durcheinander geriet, und rannte hinaus. Die Schwestern blieben eigentümlich gefasst. Ruth setzte den Kanarienvogel wieder auf seine Stange. Luise rutschte die Scrabblebuchstaben wieder in die richtige Reihenfolge. Die Partie sollte weitergehen, wenn Els wieder kam.
Els hat diese Partie nicht zu Ende gespielt. Beim Abendbrot sagte sie, es sei eben ihr Wort gewesen. Ihr Wort. Luise sagte mir, Els habe seither Gedichte geschrieben, aber sie habe sie nie jemandem gezeigt. Auch als ich letztes Jahr bei den Tanten war, um das Herrenzimmer aufzulösen, habe ich keine gefunden. Els ist am 19. Januar 2004 als letzte ihrer Schwestern gestorben. Es ist zufällig der gleiche Tag, an dem im Nachkriegsdeutschland das erste Scrabble-Spiel verkauft worden sein soll. Am 19. Januar 1955 ging es hier zum ersten Mal über den Ladentisch. Vielleicht war Els ja diese erste Käuferin. Jedenfalls habe ich zu ihren Ehren das Wort "Eiterzystenwarze" gelegt und mit Patex festgeklebt. Eigentlich hätte ich es ihr gerne ins Grab geworfen, anstelle einer Rose. Aber ich hatte nicht den Schneid dazu. Und es fehlten mir auch Tante Friedel, Tante Luise und Tante Ruth, die ihre Augenbrauen hochgezogen hätten.
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