Der Mensch ist grau, leider

Mirjam Pressler Roman über die nicht vergehende Vergangenheit, "Zeit der schlafenden Hunde"

Das "Modehaus Riemenschneider" ist ein traditionsreiches Unternehmen. Aufgebaut durch die harte Arbeit des Seniorchefs Eduard Riemenschneider. Der ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hat sich mühsam hochgearbeitet, so die offizielle Version seiner Erfolgsgeschichte. Doch durch einen Zufall stößt die Enkelin Johanna Riemenschneider, gerade 18 Jahre alt, auf einen dunklen Fleck in dieser Geschichte.

Der dunkle Fleck heißt Meta Levin und lebt in Israel. Vor der Machtübernahme der Nazis gehörte das "Modehaus Riemenschneider" ihren Eltern. Sie seien damals reich gewesen, behauptet sie, und "der verdammte Nazi" Riemenschneider habe ihnen alles gestohlen. Johanna sitzt mit einem Schlag zwischen den Stühlen: bisher hat sie ihren Großvater vergöttert. Nun ist sie gezwungen, ihn zu verabscheuen.

In Die Zeit der schlafenden Hunde erzählt Mirjam Pressler die Geschichte einer angesehenen Familie mit Nazi-Vergangenheit. Dabei vermeidet sie es geschickt, ins Klischeehafte abzurutschen. Es geht nicht um Johanna, die Heldin, die die Schuld ihres Großvaters wiedergutmacht. Es geht um Johanna, deren Weltbild ins Wanken gerät. Um Johanna, die verzweifelt versucht, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Um Johanna, die lernt, dass ein Mensch eben nur ein Mensch ist.

Seit ihrer Rückkehr aus Israel beschäftigt Johanna die Frage, was ihr Großvater eigentlich getan hat. Die "schlafenden Hunde zu wecken" traut sie sich aber erst, als es zu spät ist, den alten Mann selbst zu fragen: er stirbt, und Johanna sucht nach der Wahrheit.

Offiziell steht fest: der Großvater hat das Modehaus von den jüdischen Vorbesitzern gekauft. Nach nationalsozialistischen Gesetzen ganz legal. Offen bleibt, wer das Geld bekam und ob das Unternehmen nicht weit unter Wert gehandelt wurde. Wenngleich auch das im Dritten Reich gängige Praxis war - für Johanna bleibt der Eindruck, dass der Großvater sich auf Kosten anderer bereichert hat. Alles, worauf sie ihr Leben lang stolz war, beruht demnach auf Unrecht. Dass ihr Vater das ganz anders sieht, beweist, wie unterschiedlich die Generationen mit der geerbten Schuld umgehen. Es dauert lange, bis Johanna begreift, dass sie den Vater nicht zwingen kann, ihre Ansichten zu übernehmen.

Sie begreift auch, dass sie zwischen allem Schwarz und Weiß "die Grautöne finden muss": Täter und Opfer, Böse und Gut, das war immer ihr festgefügtes Bild von Nazis und Juden. Ist es ein Wunder, dass Johannas Weltbild wankt, als ihr geliebter Großvater plötzlich zu den Bösen gehört? Auf der Seite der Guten steht Meta Levin, die aus ihrem Hass gegenüber dem Nazi Riemenschneider keinen Hehl macht. Selbst ihr Enkel Doron hat den Hass geerbt wie Johanna die Schuld: "Ich frage mich, woher Du den Mut nimmst, nach Israel zu kommen", ist alles, was er ihr zu sagen hat. Johannas Welt steht Kopf.

Später retuschiert Johanna ihr Bild von Meta Levin, glättet in Gedanken scharfe Falten, hebt die Mundwinkel, bis die verbitterte alte Frau sanftere Züge trägt. "Notwendige Änderungen" nennt Johanna das. Warum sie das tut? Meta Levin muss dem Bild vom Opfer erst angepasst werden. Sie passt nicht, so wie sie ist. Johannas Zerrissenheit wird an solchen Dingen überdeutlich.

Sicher ist es schwer, für die Verbrechen seiner Vorfahren zu büßen. Noch schwerer ist es zu erkennen, dass Vergebung nicht garantiert ist. Eine Meta Levin wird niemals aufhören zu hassen, daran ändert auch der Tod des "verdammten Nazis" nichts. Die einzige Wahrheit, die Johanna bleibt, ist sehr unbefriedigend: geschehen ist geschehen. Damit umzugehen ist ein Weg, den jeder sich ganz allein suchen muss.

Die Zeit der schlafenden Hunde ist ein sehr sensibler Roman mit einem melancholischen Unterton. Der rührt von der Erkenntnis, dass es keine Wiedergutmachung gibt für das Volk, das sechs Millionen Menschen auf dem Gewissen hat. Bei aller Sensibilität scheut sich Mirjam Pressler aber nicht, eines ganz deutlich zu machen: Ein Mensch ist ein Mensch. Nicht schwarz oder weiß, sondern grau. Und das macht die Welt leider auch nicht leichter.

Mirjam Pressler: Die Zeit der schlafenden Hunde. Beltz Gelberg, Weinheim 2003,
272 S., 14,90 EUR


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