Aufruf zum Crash-Test

Medientagebuch Geboren aus dem Geist der Medienkrise: Der "Dummy" druckt, was Journalisten lesen wollen

Brauchen wir in Deutschland überhaupt noch eine neue Zeitschrift? Halt. Stopp! Falsche Frage. Ein kurzer Blick in die USA genügt, um uns vor Neid erblassen zu lassen. Und der Fragesteller verzieht sich in die Ecke und schämt sich. Dort nämlich gibt es die glamourös daherkommende Vanity Fair, die nichtsdestotrotz mit gut recherchierten Gesellschaftsreportagen aufwartet, es gibt die freche Village Voice, in der versierte Journalisten den etwas anderen Blick auf heiße Themen zelebrieren, und es gibt - natürlich - den New Yorker, das Intellektuellen Leib- und Magenblatt für gemütliche Sonntagnachmittage. Gut informiert und niemals gelangweilt streift der Amerikaner durch seine heimatliche Zeitschriften-Landschaft.

Und hierzulande? Gut, ab und an kann man sich sein wissensdurstiges Mütchen bei den Spezialisten-Reportagen von Geo-Spezial oder Mare kühlen. Und selbst Menschen, bei denen der Wirtschaftsteil ihrer Tageszeitung postwendend ins Altpapier wandert, finden von Zeit zu Zeit Geschmack an der Ausnahme-Zeitschrift brandeins. Aber so ein richtig schönes Magazin mit Reportagen aus Politik, Kultur und Gesellschaft? Da sieht es doch eher mau aus.

Oder so war es zumindest bis vor kurzem. Denn auf dem fast schon tot gesagten Publikationssektor tut sich was. Aus und um Berlin drängen eine Reihe neuer Druckerzeugnisse auf den Markt. Einige davon, Zoo und Achtung etwa, widmen sich explizit der Modewelt und sollen hier nicht weiter besprochen werden. Die Zeitschrift Voss - als "engagierte und schlaue Berliner Zeitschrift mit klarer Sprache, guten Autoren und klarer Optik" angepriesen - lehnt sich an die legendäre Vossische Zeitung an, kommt aber leider in ihrer ersten Ausgabe eher etwas altbacken daher. Ein anderes Kind der Medienkrise dagegen lässt uns aufhorchen und aufblicken: Dummy heißt eine Zeitschrift, die sich Ende Oktober ans Licht der Öffentlichkeit gewagt hat. Und tatsächlich - sie lässt das Herz eines eingefleischten Zeitschriften-Lesers schneller schlagen.

"Crashtest statt Copy-Test" ist das Motto, mit dem sich die Macher von Dummy geradezu todesmutig auf den Markt geworfen haben. Soll heißen: Es gab keine Befragung von Testlesern zur Namensgebung, zur Werbung oder zu den Artikeln und keine Zielgruppenanalyse. Befragt hatten sich die Geburtshelfer von Dummy allenfalls selbst: Was für eine Art von Magazin würden wir selber gerne lesen? Vielleicht, so überlegt man sich bei der Lektüre, ist das gar nicht mal die dümmste Herangehensweise für so ein Projekt. Denn das Heft liest sich wie etwas, das mit Liebe und Hinwendung fabriziert worden ist. Gleich zu Beginn lockt eine lange Fotostrecke - die bizarre Röntgenaufnahme der Schuhe von Neil Armstrong ist hier ebenso Blickfang wie das seltsam melancholische Schwarzweiß-Porträt eines resignierten Bobele im Blitzlichtgewitter. Das macht Lust darauf, weiterzublättern.

Die Crashtest-Ausgabe des Dummy haben die Macher dem Thema "Nummer Eins" gewidmet: schöne Idee für eine erste Nummer. Vom Cover blinzelt uns müde aber glücklich der Gewinner der Poker-Weltmeisterschaft in Las Vegas nebst 1,7 Millionen Dollar in bar an. Goldgräberstimmung. Mit einer Reportage über den Wohnsitz der geheimnisvollen Aldi-Brüder in Essen-Bredeney steigt das Heft sodann in die Abgründe deutscher Millionärs-Bescheidenheit herab. Elegant bebildert, clever gestrickt: der Text zeigt, wie man aus typisch deutsch-vermurksten Befindlichkeiten faszinierende Geschichten schöpfen kann. Erfrischend kosmopolitischen Esprit strahlt dagegen ein Interview über die "wichtigste Sache der Welt" mit dem amerikanischen Sexkolumnen-Guru Dan Savage aus. Die Reporterin hat den smarten Amerikaner beim Bayernurlaub mit Freund und Kind begleitet. Wir lernen einen Savage kennen, der unkonventionell ist, aber nicht abgedreht, einen Mann, der ziemlich kluge Dinge im Kopf hat, die er amüsant zu formulieren versteht.

Für alle, die sich für Globales interessieren, erklärt der Gründer von "Attac Deutschland", Sven Giegold, "wie wir die Entwicklungsländer weiter abhängen" und "warum die Argentinier weniger clever sind als die Inder". Und für die klassisch kritischen Köpfe fördert ein Porträt über Stefan Aust allerhand Unschmeichelhaftes über "Deutschlands mächtigsten Journalisten" zutage. Als Schmankerl zu betrachten: wie die wahren Herren des Kottbusser Tors sich präsentieren, wenn man sie nur posieren lässt. Das sollte man sich nicht entgehen lassen!

Alles in allem besteht der Dummy aus einer opulent bebilderten, klugen Mischung. Ein bisschen Politik, ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Kultur - aber alles in Geschichten verpackt, die wir eben nicht so oder so ähnlich schon tausendmal gelesen haben. Einzig das Layout - vom Art Director des De:Bug Magazins entwickelt - ist eher unentschieden. Mal schwelgt die Gestaltung in luftigem Design, dann wieder werden die Seiten zugekloppt, als gelte es einen Wettbewerb mit dem New Yorker in der Kategorie Bleiwüstengestaltung zu bestreiten. Naja, auch das Layout hat wohl ein Recht auf einen echten Crashtest.

Journalistisch ist das Heft übrigens von namhaften Medienkrisenopfern auf den Weg gebracht worden: der ehemalige Chef der Süddeutschen Berlin-Seite Oliver Gehrs und Jochen Förster, ehemals Die Welt, leiten das Team gemeinsam mit Heike Blümner. Im Zuge der Medienkrise hatte sich unter den zwangsweise lahmgelegten Edelfedern nach und nach eine trotzige Aufbruchstimmung breitgemacht: "Es kann nicht sein", sagt Oliver Gehrs, "dass qualifizierte Journalisten in dieser Stadt vor sich hin mäandern und nur noch Café Latte trinken". Dennoch: "Dummy ist kein Selbstverwirklichungsprojekt", so Gehrs, "entweder das Heft kommt an oder nicht." Sagen wir mal so: Es sieht so aus, als könnte sich das Dummy-Lesen zu einer der angenehmeren Arten von Hilfe zur Selbsthilfe entwickeln.


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