Nicht selten fragen Literatur und Film, an welchem Punkt im richtigen Leben das falsche beginnt, wo setzt der Verrat der Ideale ein und wie weit reicht am Ende die Schuld? Eine gelungene Erzählung führt die ewige Ambivalenz von Gut und Böse vor, sie zeigt, wie vertrackt die Lage ist. Dem gerade einmal zwanzig Jahre alten neuseeländischen Autor Ben Atkins ist mit seinem Debüt Stadt der Ertrinkenden ein solcher Wurf geglückt.
Es ist der 11. November 1932, die Stadt vermutlich Chicago. Nur noch ein halbes Jahr, dann endet die Prohibition, die seit 1920 den Verkauf von Alkohol unter Strafe stellt. Bekanntlich begünstigte das Alkoholverbot vor allem die organisierte Kriminalität. Atkins schildert einen Tag im Leben des Alkohol-Schmugglers Fontana. Der Noir-Held macht sich ein bigottes System zunutze, doch er versucht, seine moralischen Standards zu behalten. Seine Kontrahenten wissen, er trägt keine Waffe, Fonana regelt Probleme auf seine Art, bleibt aber ein knallharter Geschäftemacher. „Ich wusste, wer ich sein wollte, und ich wusste, woran ich teilhaben wollte“, lässt Atkins seinen Erzähler sagen. Nun aber gibt es Probleme, einer seiner Lastwagen wurde überfallen und die Lieferung ist weg – Fontana bleibt nur eine Nacht, die Ware wieder aufzutreiben, sonst wird es ungemütlich.
In Stadt der Ertrinkenden gibt es interessante Parallelen zu J.C. Chandors jüngstem filmischem Meisterwerk A Most Violent Year, das die Geschichte des Heizöl-Händlers Abel Morales erzählt. Auch er will in einem korrupten Geschäftsfeld sauber bleiben, gerät aber in einen Sog von Gewalt, als seine Lastwagen entführt werden.
Ben Atkins schildert Fontanas verhängnisvolle Nacht als Ritt durch einen Untergrund der Abhängigkeiten – alle haben vor irgendjemandem Angst, irgendwer ist immer mächtiger und jeder hat eine eigene Moralphilosophie. Wir sehen die Ideologien des 20. Jahrhunderts als krude Figuren auftauchen: die Faschisten, die Kommunisten, die Turbo-Kapitalisten. Dem Autor gelingt es, ein aktuell wirkendes Zeitporträt zu entwerfen – den Banken, der Börse und den Politikern traut niemand mehr.
Das Alkoholverbot sichert ein Auskommen. „Auf die Prohibition. Fluch unseres Landes, Schlüssel zum Erfolg“, rufen sie sich zu. Doch jeder weiß auch, wie schnell es vorbei sein kann: „Der Kapitalismus rechtfertigt doch alles – sogar seinen eigenen Untergang.“
Ben Atkins schrieb den Roman zwischen seinem fünfzehnten und zwanzigsten Lebensjahr, kann man lesen, über seine Erzählkunst darf man staunen. Es finden sich Beobachtungen wie „Die Entfernung zerlegte ihr Aussehen zu Gemeinplätzen“ sowie Dialoge von bestechender Klarheit: „Wird das lange dauern? Nichts dauert lange.“
Bei aller Spannung ist Stadt der Ertrinkenden ein amüsantes Buch, das glatt als Lexikon der Verbrecherweisheiten durchgehen könnte. Man fragt sich, woher der Autor das alles hat: „Wenn man etwas von wirklichem Wert verstecken wollte, benutzte man keinen Tresor.“ Und: „Leute zu ermorden macht nur darauf aufmerksam, dass es da etwas gibt, was jemandem einen Mord wert ist.“
Der zentrale Konflikt kreist um die Schuld – trotz aller Ansprüche muss Fontana einsehen, dass die Moral nur ein Menschenleben entfernt ist und es in diesem System kein richtiges Leben gibt: „Eine tolle Welt, dachte ich, in der Unschuldige wie Schuldige gezwungen sind, das Gesetz zu belügen.“ Auch am Ende von A Most Violent Year ist unklar, ob ein Unterschied zwischen legal und illegal existiert. Nachdem Abel Morales unbeschadet zu einem großem Player aufgestiegen ist, rät ihm der Staatsanwalt, nun könne er auch in die Politik gehen.
Info
Stadt der Ertrinkenden Ben Atkins Laudan & Szelinski (Übers.), Polar 2015, 230 S., 14,90 €
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