Diese Edding-Tage

Popmusik Ihre Lieder klangen mal so leicht, als wären sie in Sydney oder Montreal aus einem Ärmel geschüttelt worden. Auf dem zweiten Album wirken Boy gedämpfter
Ausgabe 34/2015

Gibt es das eigentlich noch? Schreiben Kids 2015 noch immer „I was here“ auf die Lehnen der hinteren Sitzbänke im Bus? Auf Tischtennisplatten und auf Mülleimer? Wir müssten mal die Soziologen fragen, denn man selbst fährt ja nur noch selten Bus in der Stadt.

Was war das eigentlich für eine zauberhafte Form der Selbstvergewisserung? „I was here“, gekritzelt mit einem Edding. Und setzte man sich irgendwohin, wo dieser Satz bereits stand, dann wusste man: Hier also war auch schon mal einer.

Ich fürchte ja, dass heute niemand mehr „I was here“ auf die Sitze schreibt. Das liegt zum einen daran, dass nun die Stadtbusse dergestalt geordnet sind, dass keiner mehr im Rücken des anderen sitzen darf. Vor allem aber ist es natürlich dem Umstand geschuldet, dass mit dem Internet nun viel unmittelbarere Techniken zur Verfügung stehen. Erst der Drang, sich der Welt einzuschreiben, hat ja das Digitale explodieren lassen.

We Were Here heißt das zweite Album des Duos Boy und die Single gleich mit. Wenn 2015 eine Veröffentlichung um einen so historischen Satz herum gebaut wird, sollten wir dieses schöne, einfache Konzept der Selbstvergewisserung ernst nehmen.

Nicht so dicht

Vor vier Jahren wurden die Zürcherin Valeska Steiner und die Hamburgerin Sonja Glass als Boy aus dem Stand heraus fast weltberühmt. An ihrem Debütalbum Mutual Friends hatten die beiden Musikerinnen zuvor vier Jahre lang gearbeitet. Am Ende bestand es fast ausschließlich aus Hits. Derart leichte Kompositionen, die sich anfühlten, als wären sie gerade aus einem Ärmel in Brighton, Sydney oder Montreal geschüttelt worden, hatte niemand erwartet. Die Single Little Numbers wurde zur zweiten Haut der Lufthansa.

Jetzt also, vier Jahre später, das Folgealbum. Wie man sich ihm nähert, sollte gut überlegt sein, je nach Betrachtung dürfte das Ergebnis unterschiedlich ausfallen. Vor allem in der Breite lässt sich We Were Here zunächst nicht mit dem Vorgänger zu vergleichen, es fehlen die großen, so ganz nebensächlich erscheinenden Hits, die Mutual Friends ausmachten. Insgesamt ist die Platte von einem gedämpfteren Sound, einer sentimentaleren Stimmung getragen. Glauben wir an den Albumtitel, passt das alles unbedingt zusammen: Wir waren hier, jetzt sind wir es nicht mehr. Gesungen wird von Erinnerungen, Einsamkeiten, Fluchten, auf die Feier folgt Nostalgie.

Eine Schallplatte sollten wir an ihren virtuosesten Momenten messen, das wäre hier die Single, einer der stärksten Titel des Jahres. Mit ihrem Produzenten Philipp Steinke haben Boy einen großen Popsong geschaffen, in dessen Verlauf sich das 4:17 Minuten lange Arrangement subtil steigert, um am Ende in einem emphatischen Bläserchor aufzugehen. Breiter und klarer kann man das nicht durchs Mischpult kriegen. Zugleich sagt der Song viel über den emotionalen Zuschnitt der Platte aus – gegen jede Evidenz beschwört er die Fortdauer des doch flüchtigen Einzelschicksals: „Cause everywhere we’ve been / We have been leaving traces / They won’t ever disappear / We were here, we were really here.“ Um nicht verrückt zu werden, redet sich ein trotziges Kind einen Sinn im Leben ein, das ist herrlich naiv und darum grandios.

Einen zweiten Hit dieser Dichte hält die Platte nicht bereit, auch wenn das Niveau der Arrangements qualitativ nie nachlässt. Sehr schöne Momente sind zu finden im vergleichsweise rasanten Fear oder im ruhigen, eindringlichen Hotel. Insgesamt dominieren Gitarrensounds, wie man sie – kein Vorwurf – seit The xx in vielen darauffolgenden Produktionen hören konnte. Man muss das aber erst einmal so präzise über die Länge eines Albums hinbekommen, ohne dass es langweilt.

Bleiben die Texte. Die aufgerufenen Bilder sind fast alle gängig, textlich changiert es bisweilen zwischen New-Age- und Poesiealbum-Romantik. Irgendwo sind immer „shadows on the wall“, „troubled minds“, „worlds apart“ oder „fingers crossed“, und in einem Refrain heißt es tatsächlich „I cry rivers or oceans“. Wie schade, denn mit solchen Klischees werden eigentlich tolle Songs fast unhörbar, Hotel zum Beispiel: „Pale light in the corridors / Short stories on every floor / Checking in and checking out / Nothing to write home about.“

Weil es aber fast schon wieder komisch ist, und weil der Titelsong sowieso für alles entschädigt, sei noch der mit Abstand gruseligste Song der Platte zitiert. In Hit My Heart wollen sich Boy selbstironisch mit der Generation Selfie auseinandersetzen. Abgesehen davon, dass Musik, die sich ernst nimmt, von solchen Themen besser die Finger lässt, bekommen wir hier eine Diagnose aus dem Schulreferat: „It’s hard to bear the sound of silence / And we get bored quite easily“, heißt es in der Strophe, um dann im Refrain zum Authentizitätsmantra zu werden: „Give me something tender / Something I’ll remember / A touch or a beat / A wave of heat.“

Vielleicht ist es aber auch einfach Teil der bewusst naiven Verklärung, die dem „We were here“ nun mal innewohnt. Am Ende erinnert uns das Album auf angenehme Weise daran, wie es sich anfühlte, als wir, mit dem Edding in der Hand, im Bus noch hintereinandersitzen durften.

Info

We Were Here Boy Grönland/Rough Trade 2015

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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