Hits zur Herzensbildung

Musik Der Band AnnenMayKantereit wird mangelnde Haltung vorgeworfen. Dabei reicht ihr Existenzialismus völlig aus
Ausgabe 12/2016

Seit die Moderne den Menschen aus der Vorherbestimmung in die Selbstverwirklichung entließ, ist kaum etwas so unversöhnlich geblieben wie der daraus resultierende Generationenkonflikt. Die immer gleichen Abwehrmechanismen sind in der Popkultur bestens dokumentiert und lassen sich am gerade erschienenen Debütalbum Alles Nix Konkretes der Kölner Band AnnenMayKantereit abermals beobachten. Was Christopher Annen, Henning May, Severin Kantereit und Malte Huck nach zähen Jahren als Straßenmusiker nun veröffentlicht haben, zwölf Stücke aus dem Bereich Indie-Folk-Gitarre, kann man nämlich als unbewusste, aber umso eindringlichere Provokation an die Welt der Erwachsenen verstehen. Alles nichts Konkretes, es ist der Zauber der Bedeutungslosigkeit, die Banalität des Schönen, wie es sie nur in der unbedingt schützenswerten Zeit der Jugend gibt. Trotz des großen Erfolgs, einer ausverkauften Tour und Interviews in wirklich allen Kultursendungen des deutschen Fernsehens fielen die Plattenkritiken – zumindest die ernst zu nehmenden – eher negativ aus. Journalisten werfen der Band Fantasielosigkeit, mangelhaftes Talent und nicht zuletzt das Fehlen irgendeiner Haltung vor.

Zwar kommt keine Rezension ohne Lob über die Stimme von Sänger Henning May aus, die in der Tat so klingt, als hätte er von seinen gut 20 Jahren mindestens 40 gesoffen und geraucht, doch das dürfe nicht über die Inhaltslosigkeit der Texte hinwegtäuschen. Dabei besitzen die von Moses Schneider (Tocotronic, Turbostaat, Fehlfarben) produzierten Songs eine ganz eigene Berechtigung. Denn wer genau möchte eigentlich der Jugend ihren aufrichtigen Existenzialismus absprechen, der sich zunächst in der Liebe manifestiert? Und wer behauptet noch mal, die Probleme von Erwachsenen wären in irgendeiner Weise bedeutender? Natürlich, der Sprache fehlt eine gewisse Subtilität, wie man sie etwa bei dem auf der Platte mehrfach zitierten Rio Reiser findet.

Die Banalität des Schönen

Trotzdem findet man Zeilen von glasklarer Schönheit. „Mir wär lieber, wenn du weinst / Ich versteh doch eh nicht, was du meinst“, heißt es im gleichnamigen Song. In Wohin du gehst manifestiert sich das gesamte Drama menschlicher Liebe wiederum in einer Miniatur: „Und manchmal sehen wir uns bei Leuten, die wir beide kennen / Aber anstatt wegzurennen, schauen wir uns heimlich an / Weil man sich nicht mehr kennenlernen kann.“ Wer AnnenMayKantereit vorwirft, über das Hier und Jetzt zu singen, ohne dabei gleich einen alternativen Gesellschaftsdiskurs anzustoßen, hat womöglich vergessen, wie wichtig die jugendliche Herzensbildung ist. Erfreulicherweise fehlt den Songs, und das macht die Liedtexte größer, als sie scheinen, jeder einengende Zeitgeist-Bezug. Die Welt, die Henning May besingt, kommt ohne Einbrüche des Digitalen aus: ohne Handys, Apps und Playlists – dafür gibt es analoge Telefonate, Bahnhöfe, Abschiede und – klar, das ist ultimativer Kitsch – Klaviere und Körper. Wir haben es hier also mit Menschen zu tun, die weinen, verschwinden, sich anfassen lassen. In Zeiten selbstfahrender Autos, bargeldloser Bezahlung und tiefgefrorener Eizellen empfangen wir auf Alles Nix Konkretes endlich wieder gute Neuigkeiten aus der Realwelt: Guten Tag, wie wäre es denn hiermit? Echte Menschen! Wir sollten der Jugend dafür dankbar sein.

Info

Alles Nix Konkretes AnnenMayKantereit Vertigo Berlin/Universal 2016

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Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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