Tresenthesen

Umtrunk Publizist Brendan O’Neill kämpft für den Brexit und gegen Denkverbote. Die Linke, sagt er, habe ihre Ideale verraten. Ein Treffen im Pub
Ausgabe 09/2018

Im Internet läuft gerade der finale Kampf um Liberalität und Meinungsfreiheit – zumindest, wenn man denen Glauben schenkt, die diese Schlacht anführen und ihre Truppen stetig vergrößern: Jordan Peterson, Dave Rubin oder Ben Shapiro. In Gesprächsrunden wie dem Rubin Report, in ihren Lectures und Monologen beschwören sie immer wieder eine Sache: „Freedom of Speech“, die verfassungsrechtlich garantierte Rede- und Meinungsfreiheit. Sie halten diese Freiheit für stark gefährdet: Gemälde werden abgehängt, Gedichte übermalt, Schauspieler aus Filmen montiert, Monumente gestürzt et cetera pp.

Zu ihrer Galionsfigur avancierte der großväterlich wirkende kanadische Psychologe und Universitätsprofessor Jordan Peterson, der sich unter anderem weigerte, ein Gesetz anzuerkennen, das den Bürger verpflichtet, geschlechtsneutrale Personalpronomen zu verwenden. Slavoj Zizek widmete ihm gleich mehrere kritische Essays, demnächst wollen sie sich zum Showdown verabreden. So weit ist es jetzt.

Im angelsächsischen Sprachraum steht der Programmpunkt „Voranschreiten der Verbotskultur“ deutlich länger auf der Tagesordnung als hierzulande. Vor allem aber überlässt man dort das Feld nicht kampflos den Chauvinisten und Nationalisten, denen an Meinungsfreiheit in Wahrheit so viel gelegen ist wie an offenen Grenzen. Man versucht, die schwierige Diskussion im Namen des Liberalismus zu führen.

Einer von ihnen ist der Brite Brendan O’Neill, den ich für ein Gespräch in London treffe. O’Neill ist Redakteur und Herausgeber des Internetmagazins Spiked Online. Seit Jahren schreibt er gegen Sprech- und Denkverbote an, doch seine wahre Berufung fand er im Brexit-Referendum. Hier ist alles, wofür und wogegen er publizistisch ins Feld gezogen war, zusammengekommen. Und so steht er am 13. Juli 2016 in der Wahlkabine und stimmt – mit Tränen in den Augen – für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. O’Neill erstrahlt förmlich, als er davon erzählt. In diesem Augenblick habe er zum ersten Mal die Kraft der Demokratie gespürt, sagt er. Seither herrscht Ratlosigkeit in EU und UK, denn die Brexiteers gewannen bekanntlich entgegen jeder Prognose. Knapp zwar, doch nie zuvor in der Geschichte, predigt O’Neill seither landauf und landab, hätten mehr Briten überhaupt für irgendetwas gestimmt. Aus seiner Sicht: für die Rückgewinnung demokratischer Kontrolle über Großbritannien. Für O’Neill ist der Brexit keine Katastrophe, sondern eine gelungene Revolte der „ordinary people“, der einfachen Menschen, die sich gegen das Establishment in Politik, Medien und Kultur erheben.

17 Millionen Fremdenfeinde?

Kaum ein Tag vergeht ohne Kolumne, ohne Auftritt in Talk- und Nachrichtenformaten bei der BBC oder bei SKY. Nur wenige Tage nach Jordan Peterson sitzt auch er im Rubin Report in Los Angeles und unterhält sich mit dem Gastgeber – und auch sie sind sich einig. Zu unserem Treffen in einem Pub erscheint O’Neill mit einer Basecap. Bester Dinge knallt er eine Sporttasche auf den Tresen und bestellt zwei große Bier. Man ahnt, dass sich mit einem wie ihm sehr gut trinken lässt. Der Brexit, setzt er sich gleich auf sein Steckenpferd, habe ihm endgültig gezeigt, dass die Linke auf der falschen Seite stehe. „Mehrheitlich einfache Leute, Arbeiter, kleine Angestellte“, fährt er fort, „sie alle haben gemeinsam für mehr Unabhängigkeit gestimmt, aber die Linke, die eigentlich für diese Menschen Politik machen sollte, brandmarkte 17,4 Millionen Menschen augenblicklich als xenophob und rassistisch, bestenfalls als verführt und fehlinformiert.“

Bis heute, O’Neill wird nun sehr bestimmt, würden große Teile der Gegenseite das Ergebnis nicht anerkennen, es sei zu knapp gewesen, zu ungerecht. „Die Idee, dass es zwei Großbritannien gäbe, ein gutes, junges und modernes und ein altes, rückständiges, ist sehr gefährlich, denn sie dämonisiert einen großen Teil der Bevölkerung – die Ländlichen, die Traditionellen, die Älteren, die weniger Gebildeten, aber so kann man keine Gesellschaft gestalten“, sagt O’Neill.

Es ist eine Geschichte, die man seit der Wahl Trumps nun öfter hört: Sie erzählt, warum Menschen, die früher SPD, Labour oder Sozialisten wählten, heute den Rechten in die Arme laufen. Geschichten auch über das Versagen der Linken, die sich in Identitäts- und Symbolpolitik verliert, statt sich um ihre Klientel zu kümmern. Zuletzt machten die Philosophen Robert Pfaller (Erwachsenensprache) und Guillaume Paoli (Die lange Nacht der Metarmorphose) hierzulande vergleichbare Punkte.

Er schneidet durch alle Gewissheiten des Kulturliberalismus – häufig so radikal, dass man beim Lesen erschreckt umherschaut, ob nicht einer beobachtet, auf was für dunklen Seiten des Internets man gerade herumschleicht. Ein paar Beispiele: O’Neill verteidigte nach den Massakern von Las Vegas und Florida das Recht der Amerikaner auf Waffenbesitz (siehe Bill of Rights), er stellt sich gegen die Homo-Ehe, weil er befürchtet, der Staat wolle damit auch noch den letzten Bereich radikaler Sexualität einhegen, und auch die #metoo-Bewegung kommt bei ihm nicht besser weg als der Umweltschutz, der zulasten der Arbeiterschaft gehe.

Zugleich aber ist O’Neill ein Verfechter des uneingeschränkten Abtreibungsrechts für Frauen, opponiert gegen Trump und Clinton gleichermaßen, agitiert für die Legalisierung von Drogen und verdammt die anti-israelische BDS-Bewegung. Er verachtet die britische Königsfamilie und hält Haschisch für eine besonders gefährliche Droge, da sie die Menschen sozial sediere, statt sie wie Alkohol zu Brüdern im Kampfe zu machen. Ist also was los bei O’Neill.

Dabei sind die Bill of Rights – die zehn Zusatzartikel der Verfassung der USA – so etwas wie sein Evangelium. Er verehrt die Französische Revolution genauso wie die Suffragetten, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit physischer Gewalt das Frauenwahlrecht erkämpften. Sowenig O’Neill dem klischeehaften Bild des Wutbürgers entspricht, sowenig ist in den von ihm angestoßenen Facebook-Debatten jener Hass zu spüren, aus dem die ZDF-heute-show ihre Pointen bastelt. So gut wie nie geht es um Grenzen, Migranten, Flüchtlinge und Vergewaltigungen und schon gar nicht um irgendeine christliche Identität Großbritanniens oder das Abendland.

Genau genommen ist O’Neill ein Libertärer, auch wenn seine Gegner ihn als Reaktionär brandmarken. Dabei sieht er sich in einer linken Tradition, nennt sich auch einen libertären Marxisten. Aber: „Die Linke hat die Idee der Freiheit aufgegeben und alles, wofür sie jemals stand.“ Er dagegen will die Menschen vor dem Staat schützen. Den Massen vertraut er mehr als den Institutionen. „Do you trust ordinary people?“, lautet seine Schlüsselfrage.

Um seine Fixierung auf die „ordinary people“ zu verstehen, muss man seine Biografie kennen. Sie liest sich wie eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Die Eltern sind Nachbarskinder in einem Dorf im armen Westen Irlands. Mit 14 verlassen sie die Schule, arbeiten auf einem Hof, werden ein Paar und ziehen mit 17 Jahren arbeitssuchend nach London. Innerhalb von fünf Jahren bekommen sie fünf Kinder, am Ende werden sie sechs Brüder sein. Zu acht wohnen sie in einer winzigen Wohnung, Anfang der 1980er Jahre ziehen sie in ein Häuschen im Norden Londons.

Wir sind in der beinharten Thatcher-Ära, doch gerade diese Regierung erlässt mit dem Housing Act ein Gesetz, das es Leuten wie seinen Eltern erlaubt, ihre Mietshäuser der Stadt weit unter Marktpreis abzukaufen. O’Neill verkörpert eine Aufstiegsgeschichte jener Zeit. Er glaubt an ökonomisches Wachstum, an harte Arbeit und steigenden Wohlstand, nicht an einen Staat, der die Menschen mit sozialen Programmen ruhigstellt. „Die Linken à la Jeremy Corbyn“, doziert er, „sie wollen die Armen nicht befreien, sie wollen sie kontrollieren. Sie bevorzugen sie, wenn sie schwach und verwundbar sind. Ich aber kämpfe für alles, was die Macht von Menschen über die Natur vergrößert und die Macht von Menschen über Menschen verringert.“

Verschwommen

Über seine wenig privilegierte Kindheit hat er nur Gutes zu berichten. Als Erster der Familie liest er früh und viel, darunter Lenin und Trotzki. Mit 18 Jahren verlässt er London und reist durch Kontinentaleuropa, jobbt als Küchenhilfe, als Kellner, als Paketbote, irgendwann mit 19 nennt er sich einen Kommunisten und tritt der Revolutionary Communist Party bei. Mit 23 beginnt er zu schreiben, ein Studium bricht er ab, seine ersten Texte erscheinen im Magazin Living Marxism. An Marx liebt er bis heute, wenn wundert’s, dessen Kampf für Rede- und Pressefreiheit.

Nach dem dritten oder vierten Bier werden die Thesen gewagter. „Für manche bedeutet links sein heute, einen Uber nach Downtown zu nehmen und einem Arbeiter in die Fresse zu schlagen.“ Ob es nun vor allem an bierseliger Männerbündlerei liegt, an seinem irischen Trink-Charme und diesem flirrenden politischen Pathos, dass man sich Sympathien nicht erwehren kann? Höchstwahrscheinlich.

Je länger der Abend geht, desto verschwommener gerät mein Urteil, am Ende sind wir im kaum noch zitierbaren Bereich angekommen. So stellen wir fest, im vergangenen Jahr unabhängig voneinander auf einer amerikanischen Shooting Ranch mit scharfen Waffen geschossen zu haben, und dass wir es eigentlich ganz gut fanden. Ich stelle mir nun vor, wie ich betrunken in der Wahlkabine stehe und über den Brexit abstimme – darf man berauscht wählen?

Am nächsten Tag erwache ich mit schwerem Kopf. Brendan O’Neill hat in der Zwischenzeit wieder fleißig gepostet, auf Instagram zitiert er die Labour-Politikerin Kate Hoey: „Wir sollten uns darüber klar werden, dass die Arbeiterklasse für den Brexit gestimmt hat, weil sie das Gefühl hatte, dass das Establishment ihr nicht mehr zuhört. Und jeder Versuch, den Brexit zu stoppen, bestätigt sie darin.“ „You can’t trust the Irish“, sagte Margaret Thatcher einmal, „they are all liars.“ Aber was wusste Thatcher schon.

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Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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