Wir Voyeure

Strukturwandel „Berlins neue Perspektive“ steht am Eingang des Ku’damm-Karrees. In einer Kneipe fließt noch Bier
Ausgabe 40/2016
Die erste Hälfte der 90er war gut. Ab 95 fing die Scheiße an
Die erste Hälfte der 90er war gut. Ab 95 fing die Scheiße an

Foto: Jürgen Ritter/Imago

Er sieht den Dingen gern beim Verschwinden und Kaputtgehen zu, der Mensch, dieser unverbesserliche Voyeur – und so ist es auch hier. Er ist eine magische, nicht selten selbstzerstörerische Kraft, dieser Voyeurismus, er treibt uns an, den Ehepartner auf frischer Tat beim Seitensprung ertappen zu wollen, und er lässt uns auf der Autobahn zu langsam an einem Unfall vorbeifahren. Und sind die Dinge erst einmal verschwunden, kaputt oder Geschichte, sucht der Mensch mit ebenso großem Eifer nach ihren Spuren und Überresten, um sie im Fortgang krumm und schief wieder zusammenzusetzen. Erst muss etwas unrettbar untergehen, dann blicken wir ihm nostalgisch beruhigt hinterher.

So ist es in Berlin an vielen Orten, meist in den Ostbezirken, etwa in Prenzlauer Berg und in Mitte, wo man dem Ruinenzauber nachtrauert, den uns die DDR nach ihrem Verschwinden noch ein paar Jahre lang auskosten ließ. An das in die Länge gezogene Ende von Ostberlin erinnert aber gerade auch ein Ort im Westen. Es ist der in die Jahre gekommene Gebäudekomplex namens Ku’damm-Karree. Wie damals, als die letzten Stunden von Orten wie dem Palasthotel oder dem Lindencorso schlugen, ist es dem Tod geweiht, bald spurlos verschwunden.

Die Bagger warten

Das ramponierte Ku’damm-Karree als Wiedergänger der DDR also, das mittels Fremdwährung (dazu später mehr) von innen ausgehöhlt und bis zur Unrettbarkeit modernisiert werden wird. Die Bagger und Kräne, so heißt es seit Jahresbeginn täglich, warteten nur noch auf den Startschuss, nachdem jahrelang von immer unerreichbareren Plänen die Rede war.

In den 80ern, als das Westberliner Nachtleben noch auf dem Ku’damm geschah, beherbergte das 1971 fertiggestellte, 102 Meter hohe Ku’damm-Karree-Hochhaus neben einer berühmten Tanzschule und florierenden Unternehmen vor allem eine hochfrequentierte Kneipenstraße. Angelegt als fensterloser Tunnelgang zwischen Kurfürstendamm und Lietzenburger Straße, trägt sie bis heute den Namen Sperlingsgasse.

Wie viele Kneipen es einmal waren, und wie sehr sie sich in ihrer verblüffenden Unterschiedlichkeit ähnelten, sollte jeder einmal bestaunt haben, solange dieser Ort in seiner verlassenen, konservierten Form fortbesteht. Wer noch schnell hineilt, stößt im Eingangsbereich auf ein Schild, auf dem „Ku’damm Karree – Berlins neue Perspektive“ geschrieben steht, darunter aufgelistet – wie im Industriegebiet – sämtliche Kneipen, die hier einmal ausschenkten.

Geht man einmal quer durch das Erdgeschoss mit seinen sprenkligen PVC-Böden und tiefen Bürohimmeln, stehen sie noch immer aufgereiht da. Sie alle wurden bereits vor Jahren geschlossen und so belassen, als könnte man mit ihnen eines Tages, vielleicht nach dem großen Knall, noch einmal rechnen. Nur aufsperren müsste man und das Bier wieder kaltstellen. Sie hießen Riverboat, Bei Manne, Bei Jutta, Leopard 1, Memphis, Tresen – und dann natürlich das Bistro 2000, von dem man liest, es habe einmal die längste Theke Berlins gehabt. Außerdem soll sein Besitzer Mitte der 90er noch einmal 300.000 Mark in die Hand genommen haben, um den Laden zu renovieren – zur Altersvorsoge.

Heute ist nur noch eine einzige Kneipe geöffnet. Im Karree-Treff gibt es Brühwürstchen aus dem Wasserkocher und man darf rauchen, also rauchen auch alle. An den holzverkleideten Wänden hängen Fußballwimpel, Schals, Plaketten und Erinnerungsfotos aus glückseligen Zeiten, es läuft laute Popmusik, ohne dass es einem auffallen würde. Und weil man sich in Kneipen wie dem Karree-Treff schon beinahe verdächtig macht, wenn man in Begleitung kommt, sitzen die Gäste einzeln und erst dadurch tatsächlich gemeinsam am Tresen. Der Kneipengast kommt immer allein.

Aus der Tür tritt ein Ehepaar Ende 50, es sind die beiden letzten verbliebenen Kneipiers. Die Entwicklung des Karrees beschreiben sie so: „Die 80er waren super, und die erste Hälfte der 90er war auch gut. Ab 95 fing die Scheiße an.“

Dieser Ort, er erzählt von Unumkehrbarkeit, von Niedergang und Vanitas, von der ganzen Wucht, die ein innerstädtischer Strukturwandel entfacht. Er lässt den auf Hoffnung geeichten Besucher aus Mitte nur insofern positiv in die Zukunft blicken, als er dem Irrtum zu unterliegen bereit ist, selbst bis auf Weiteres unverwundbar zu sein. Berlins neue Perspektive halt.

In dem Versuch, die Gasse nach der Wende in Betrieb zu halten, simulierten auch andere skurrile Geschäftsideen ihr Fortkommen im Karree. Auf den Auszug des Kosmetiksalons „Luisa“, des Beautysalons „Afro Look Euro“ oder von „Giorgio S. – Männermode“ folgte jedoch kein weiterer Einzug, und durch die vergilbten Ladenfenster hindurch kann man einen Blick auch in diese Welt werfen. Nicht genau sagen lässt sich indes, ob die Kunstgalerie Carlos Hulsch noch in Betrieb ist, oder ob Carlos am Ende einfach keine Lust mehr hatte, die Staffeleien und Gemälde (Preise ab 3.000 Euro) aus dem Ladenlokal abholen zu lassen*.

Katzengoldene Jahre

Vollkommen undurchsichtig sind die übergeordneten Besitzverhältnisse. Nachdem der Immobilienunternehmer Rafael Roth das Gebäude 1990 vom Land erwarb und freundlicherweise sanierte, verkaufte er es 2002 an die db Real Estate, die es 2006 an den Private-Equity-Fond Fortress weiterreichte. Zwei Jahre später übernahm die Holding Ballymore Properties (Megaprojekte in London!), die das Karree zunächst abreißen lassen wollte, dann aber schnell noch den Stararchitekten David Chipperfield „überzeugte“, umfassende Pläne anzufertigen, was dieser auch tat. Die Pläne jedoch sah man nie wieder. 2014 übernahm die Münchner Immobiliengesellschaft Cells Bauwelt GmbH 50 Prozent der auf über 100 Millionen Euro geschätzten Immobilie, während die andere Hälfte, glaubt man der lokalen Presse, bei einer Briefkastenfirma aus Panama verblieb. Von Zypern aus über Panama planen nun (so hört man!) zwei russische Geschäftsleute der Dorado Services Company die goldene Zukunft des Ku’damm-Karrees.

Denn unrettbar ist die Sperlingsgasse. Die jungen, schönen und prekären Leute der Stadt tragen ihre nicht gezahlten Ausfallhonorare nicht hierher. Zwar schaffen sie es gerade noch so in die Neuköllner Eckkneipe, um gemeinsam mit den letzten kaputten Stammkunden ein paar Mal ironisch am Tresen zu sitzen, bis zum Ku’damm aber ist es ein weiter Weg.

So existiert dieser Ort lediglich noch, um uns einen letzten Blick in die katzengoldenen Jahre der Westberliner Bundesrepublik zu ermöglichen. Ganz so verbittert und tieftraurig aber, wie man sich das selbst so herbeifantasiert beim Gang durch diese untergegangene Neonröhrenwelt, ist die Stimmung selbst bei den verbliebenen Betreibern des Karree-Treffs nicht: „Wir halten hier noch ein bisschen durch“, versichern sie. „Es war eine wunderbare Zeit, und wir kommen klar.“ Rechtzeitig noch haben sie gemeinsam mit der Tochter vor ein paar Jahren ein Sportstudio eröffnet, das scheint eine gute Idee und einfacher umzusetzen als der Umbau einer geschichtsträchtigen Immobilie. Und schließlich ist alles, was besteht, auch wert, dass es zugrunde geht.

*Nachtrag: Inzwischen hat sich geklärt, dass die Galerie Carlos Hulsch geregelte Öffnungszeiten einhält, Di - Fr 15-19 Uhr. Die Ausstellung "Die Maler der Waisenbrücke" läuft wie geplant noch bis 28. Oktober 2016 und wird mit einer Finissage am 28. Oktober von 18 bis 21 Uhr beendet. Erst danach wird die Galerie im Kudamm-Karree ordentlich geschlossen, um die Räume für den Abriss und den Neubau eines Hotels freizugeben. Danach erfolgt ein geordneter Umzug ins schräg gegenüber gelegene abba Berlin hotel, Lietzenburger Str. 89, wo die Galeriearbeit im Ausstellungsfoyer ab 16. Februar 2017 mit Tuschpinselarbeiten von Prof. Walter Karberg fortgesetzt wird.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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