Blackout

IM KINO "Code:Unbekannt" von Michael Haneke

Ein taubstummes Mädchen setzt ihren ganzen Körper ein, um ihren Mitschülern ein Rätsel aufzugeben: Gefühleraten. Die Kinder raten es nicht, und man ahnt: ein namenloses Gefühl wie ein Alb. Droht uns Michael Haneke hier die Fortsetzung des gar nicht lustigen Spiels an, das er mit Funny Games begonnen hatte? Ein Gemetzel zwischen Leinwand und Betrachter, an dessen Ende die Gewalt einmal mehr als eine bittere Tautologie des Kinos erscheint?

Dann wäre Jeanne in den ersten Szenen von Code:Unbekannt Hanekes nächstes Schlachtvieh. Eine Schauspielerin auf dem Weg zur Vorsprechprobe. "Sie kommen hier nicht mehr raus." - "Was soll das heißen?" - "Dass Sie hier sterben werden." - "Soll das ein Witz sein?" - "Ich will Ihnen beim Sterben zusehen. Sie sind mir in die Falle gegangen, das ist alles." Fünf Minuten lang sehen wir nur Jeannes Angst durch die Videokamera des Casting Teams, das ihr aus dem Off die Stichworte gibt. Gefühleraten. In Juliette Binoches schmerzhaft offener Mimik verdrehen sich die Bedeutungen der Spielszene: der Stichwortgeber ist der Sadist, die Kamera ist der Voyeur und Jeanne ist das Opfer der Kumpanei zwischen beiden. In der brutalen Semiotik von Funny Games würde sich dieses Bedeutungsspiel in ein nihilistisches Verdikt auflösen und Jeanne die Szene nicht überleben. Hier bekommt sie die Rolle.

"Ich war schwanger. Ich habe abgetrieben, als du weg warst." - " Soll das ein Witz sein?" - "Suchs dir aus." Jeanne als Stichwortgeberin für ihren Mann. Georges, der als Fotograf in den Jugoslawien-Krieg gezogen ist und der sich mit dem, was zuhause Frieden heißt, nicht mehr zurecht findet. "Es ist einfach, sich rauszuhalten und von Bilderökologie und dem Wert der nicht gemachten Mitteilung zu reden. Die Frage ist nur: Was ist die Konsequenz?" Im Krieg herrscht die Brutalität der Alternativlosigkeit, erst im Frieden bekommt man Lust auf Interpretationsspielräume und stellt Fragen, zu denen Bilder keine Antworten geben können. "Wir reden von verschiedenen Dingen. Für dich ist es eine theoretische Überlegung, für mich eine Erfahrung." - "Aber solche Erfahrungen kannst du mit deinen Bildern nicht vermitteln." - "Das ist wahr."

"Ist das wahr?" Ein Vater versucht seinen Sohn zur Wahrhaftigkeit zu erziehen, indem er ihm mit den lebenslänglichen Folgen einer Lüge droht. Also noch einmal: "Ist das wahr?" Statt einer Antwort - der Fotograf, der seine Kamera präpariert, um in der Metro unbemerkt Gesichter zu fotografieren. Auch hier im Frieden, wo Realität zu einer bequemen Mehrdeutigkeit verfließt, die Suche nach dem authentischen Bild, nach dem wahrhaftigen Schnappschuss. Ein Schuss im Blackout zwischen diesem und dem nächsten Bild. Ein Bauer, der sein Vieh erschießt, weil sein Sohn den Hof nicht übernehmen will. Ein Schuss, der scheinbar Klarheit schafft, einen klaren Schnitt setzt. "Die Wahrheit ist anders", sagt der Bauer später. Bevor er sie erzählen kann, der nächste Blackout.

Alle Szenen sind jeweils in einem kontinuierlichen Take gedreht, ohne Schnitt. Ausgenommen einzig diejenigen Episoden, in denen eine Kamera zum narrativen Inventar gehört. Dort springt das Bild vom Film zum Film im Film und verweist damit auf den realen Unterschied der beiden Ebenen. Theorie und Erfahrung: aus der Brüchigkeit der Bilder folgt nicht, dass sich die Realität bis zur Unkenntlichkeit in Beliebigkeitsschnipsel zerlegen ließe.

Die langen Einstellungen und die akribische Montage lenken die Aufmerksamkeit auf den Herstellungsprozess des Bildes. Jedoch verliert das Gezeigte damit keineswegs an Brisanz. Einer bis an die Grenzen der Verstehbarkeit komplexen Wirklichkeit ist mit Realismus nicht beizukommen. Haneke begegnet dieser Analyse mit dem Film als offenem Konstrukt: im Dunkel zwischen Auf- und Abblende wirkt die Montage als Suggestion und macht die Wahrheit sichtbar, an der die Bilder scheitern.

Die Leitvermutung, dass zwischen den Fragmenten ein keineswegs zufälliger Zusammenhang besteht, ist jenseits ihrer dramaturgischen Relevanz eine ethische und politische Aussage. Anders als unter den selbstreflexiven Spielregeln der Funny Games, ist in Code:Unbekannt die Leinwand nicht der ganze Horizont. Die Fragmente haben ein Vorher und ein Nachher und gehören damit der Welt an, aus der heraus der Zuschauer das Kino betritt und in die er auch wieder zurückkehren wird. Einmal mehr wissen Hanekes Bilder um den auf ihnen lastenden Blick des Zuschauers, der aber eben nicht nur Zuschauer ist und ins Kino nicht tappt wie in eine Falle.

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