Blaulichtviertel

Alltag Wer eine Wohnung sucht, unternimmt eine Reise - von traumhaften virtuellen Wohnwelten auf Suchportalen bis in die eigentümlichsten Winkel einer Stadt

Berlin sei eine gute Stadt zum Leben, sage ich anderen immer gerne, weil es leicht sei, von ihr wegzugehen und auch leicht wieder zurückzukommen. Das ist so ein Spruch geworden.

Nun komme ich mal wieder zurück nach Berlin und muss lernen, den Telegrammstil der Wohnungsanzeigen in meine eigenen Bedürfnisse zu übersetzen. Will ich Pk, Dn, Lam, Sfl oder Ghs? Und brauche ich Bd, gr, Bk und GEH und zwar sfr? Aber auch wenn die Botschaft in vollständigen Worten formuliert wird, liegt der Sinn nicht brach vor Augen. Während "Schlossnähe", "Spreeblick" und "Kiezlage" sich am realen Objekt noch irgendwie bewahrheiten, ist "verkehrsgünstig" oft schon ein Hinweis darauf, dass die Wohnung in einer Gegend liegt, aus der man nur schnell wieder wegkommen möchte. Auch vermeintlich lockende Auskünfte wie "10 min vom Alex" oder "Nähe Maybachufer" sollen in der Regel darüber hinwegtäuschen, dass die Wohnung eben gerade nicht mitten im Zentrum oder in Kreuzberg liegt.

Die Makler haben eine eigene Art und Weise, die Stadt zu vermessen. Glaubt man ihrer Kurzprosa, so erstreckt sich "Kreuzberg!" im Süden mittlerweile bis zur Neuköllner Boddinstraße und im Osten bis in den Plänterwald, während es im Westen schon weit nach Schöneberg hineinreicht, das dafür seinerseits erst am Steglitzer Kreisel endet. Kurz und gut, trotz virtueller Wohnungsbegehungen und 360 Grad Portfolios findet man die neue Wohnung erst, wenn man sich einen Termin in der Wirklichkeit geben lässt.


In der Wirklichkeit angekommen, stehe ich auf der Terrasse einer aufgesetzten Dachgeschosswohnung im Böhmischen Viertel in Neukölln (Rixdorf!). Um sich von dem dichten Wolkenpanzer nicht die Pointe nehmen zu lassen, greift der Makler in die Tasche und hält mir einen kleinen Kompass hin. Folgsam zittert die Nadel auf dem S. "Südbalkon", beziehungsweise "Sü-Bk", wie es in der Anzeige hieß. "Gr." stand da noch, und ja, groß ist die Wohnung auch, zu groß finde ich. Der "Wohnbereich" kaum wohnlich gemacht mit der "amerikanischen Küche", das Schlafzimmer durch den Dachgiebel wie ein riesiges dunkles Zelt. Dahinter das Bad, dessen verschwenderische Größe auch durch Bidet, Doppelwaschbecken und Pissoir keinen rechten Sinn bekommt. Neben der Badewanne schließlich eine Tür, die kurioserweise direkt ins nächste Treppenhaus führt. "Fluchtweg", sagt der Makler, und ich frage mich, ob er Gedanken lesen kann.


Eigentlich möchte ich mal in den alten Westen ziehen, weil ich den nach all meinen Berliner Jahren am wenigsten kenne. Neukölln ist zwar auch "alter Westen", obwohl es östlicher liegt als große Teile des alten Ostens. Insgeheim hege ich aber den Wunsch, wohin zu ziehen, wo mich niemand erwartet, und nach Neukölln ziehen nun alle, denen Kreuzberg zu teuer geworden ist. Wo würde mich niemand erwarten? "Repräsentativer Jugendstil am Lietzensee" habe ich mir angestrichen und steige an der Karl-Marx-Straße in die U-Bahn. Die U7 (nicht die U1) ist für mich die Linie des alten Westens, von Rudow im Südosten nach Spandau im Nordwesten. Wie auf einer Zeitreise erscheinen auch die Leute, nicht weil sie so betagt wären oder von gestern, sondern weil ich meine, in ihren Gesichtern das Leben der Stadtteile lesen zu können. Wie nirgendwo sonst in Berlin scheinen mir die Viertel entlang der U7 von Biografien gezeichnet, weil Menschen in ihnen alt geworden sind. Und das sollte ja auch der Normalfall sein, dass sich die Viertel mit den Menschen verändern, anstatt dass die Menschen ihresgleichen hinterher ziehen müssen alle paar Jahre, weil der Markt eine neue Lücke freigegeben hat.


"Repräsentativ" ist der Jugendstil vor allem nach vorne zur Straße hin. Das "Objekt", ich ahnte es schon, ist eine einfache Hinterhauswohnung mit Blick auf ein penibel gepflegtes Immergrüngeviert. Aber die Wohnung ist vernünftig geschnitten und fühlt sich verlässlich an. Im Gegensatz zu vielen "topsanierten" Altbauwohnungen in Prenzlauer Berg und Mitte, wo nach vier Jahren schon wieder die Handwerker (und Anwälte) kommen müssen, sieht hier alles aus wie in Würde gealtert. Das Parkett hat sanfte Mulden, die von unverrückten Möbeln und um sie herum führenden Pfaden erzählen, und die Heizkörper sind von der bauchigen Sorte, auf die der Lack so oft nachgetragen wurde, dass sich die Rippen nun fast berühren. Was für Leute in dem Haus wohnen, frage ich den Makler und er antwortet "Bildungsbürgertum", als wäre es eine Rebsorte. Ich nicke wissend und frage mich, ob er sich denkt: "Eben Leute wie du."


Als ich eine knappe Stunde später in Moabit aus der U-Bahn steige, ist es schon fast dunkel. In den Bäumen an der Turmstraße klettern Elektriker herum. Hertie hat eine neue Schrift, riecht aber noch genauso schlecht nach altem Waschwasser und Chanel Egoiste. Der Makler führt mich in ein Hinterhaus. Schon am Klingeln seines Schlüsselbundes meine ich zu erkennen, dass die Sache einen Haken hat, und als er die Tür öffnet, sehe ich gleich, was es ist: in der ganzen Wohnung sind die Decken auf 2,30 Meter abgehängt und sämtliche Oberflächen mit Nut und Feder verkleidet. Je nach Phantasie (und Temperatur) wird man sich in den Windfang einer Skihütte oder in eine finnische Sauna versetzt fühlen. Wir wissen beide nicht so recht, wohin mit uns in der Leimholzzelle. Ich fahre mit der Hand über die Wand. Der Makler meint, man könne das gewiss auch herausreißen, und ich frage ihn, was denn dahinter sei. "Kabelsalat nehme ich an", sagt er.


Drei Straßen weiter habe ich mir den nächsten Termin vermerkt. Vorderhaus, zweiter Stock. Die Dielen knarzen unter dem Schritt. Die Vormieterin steht im "Berliner Zimmer", das murmelnde Kind in einer Tragetasche auf dem besenreinen Boden. "Ich habe gerne hier gewohnt", sagt sie zu niemand Bestimmtem. Die Maklerin sagt, es sei ein helles Zimmer, nachmittags habe man hier direkte Sonne. Ich schaue durch das große Fenster in den Hof und rechne: westliche Straßenseite, die Wohnung liegt links, das Fenster geht also direkt nach Norden. Ich sage ihr das. Sie habe es auch erst nicht glauben können, insistiert sie, aber die Sonne scheine mittags bis an die andere Wand. Sie hält sich die Kladde vor die Brust wie einen Schild. Ich wünschte, ich hätte einen Kompass. Bevor sie mir erzählt, dass man bei Föhn das Kreuzberger Maybachufer sehen kann, verabschiede ich mich.

Als ich von der Straße noch mal hochblicke, sehe ich, wie im zweiten Stock das Licht ausgeht und durch einen blauen Schein abgelöst wird. Auch das haben sich die Makler einfallen lassen, dass blaues Licht Leerstand signalisiert. Und dass Leerstand lockt. Einen Stock darüber flackert das milchige Blau eines Fernsehers. Dort wohnt jemand.

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