Gefesselte

IM KINO "Uneasy Rider" erzählt von verhinderten und unverhofften Intimitäten

Schauplatz von Jean-Pierre Sinapis unprätentiösem Film Uneasy Rider ist ein Heim für Körperbehinderte in der Nähe von Paris. Während eine Gruppe Ave Maria singend von einer Pilgerfahrt aus Lourdes zurückkehrt, belegt René Amistadi alle Welt mit Flüchen. René, der an Muskelschwund leidet und seit 20 Jahren im Rollstuhl sitzt, ist ein Musterbeispiel des tyrannischen Behinderten: Rücksichtslos lässt er seinen Frust an denen aus, von deren professioneller Hilfsbereitschaft er abhängig ist. Während das Pflegepersonal größtenteils kapituliert hat, bietet nur Julie, die erst seit kurzem in dem Heim arbeitet, ihm Paroli. Ihre Beharrlichkeit konfrontiert sie bald mit der Ursache von Renés Unausstehlichkeit. Er will noch einmal Sex haben, bevor seine Krankheit es nicht mehr zulässt.

Unterdessen hat sich Rabah, ein junger Moslem, in den Kopf gesetzt, Katholik zu werden. Während es dem einen nach einer Prostituierten verlangt, sucht der andere die Nähe Gottes. In beiden Fällen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Rabahs Wunsch ist zwar etwas zweifelhaft - der Unterschied zwischen Jesus und Johnny (Hallyday) ist für ihn offenbar fließend -, birgt aber weniger Konfliktpotential als Renés sexuelle Bedürfnisse. Die Sexualität der Behinderten ist ein Thema, das der Heimleiter gerne von heute auf morgen und von dort auf übermorgen verschieben würde. Mit einem Hungerstreik erzwingt René schließlich die Zustimmung des Personals. Da sich jedoch niemand als Zuhälter betätigen will, bleibt die Angelegenheit schließlich bei Julie hängen.

Die Doppeldeutigkeiten, die hier lauern, ergeben sich aus dem delikaten Verhältnis zwischen Patient und Pfleger. Körperliche Nähe und Abhängigkeit schaffen eine schwer auszuhaltende Intimität; die so Aneinandergedrängten entwickeln oft derbe Umgangsformen, deren Brutalität sich nur mit Humor ertragen lässt. "Je schmerzhafter, härter, grausamer Dinge sind, desto mehr kommt es darauf an, sich ihnen mit Humor zu nähern", sagt Jean-Pierre Sinapi über seinen Film. Die Prostituierten bieten ihre Dienste in Wohnwagen entlang der Landstraße "Nationale 7" an; die wenigsten davon sind behindertengerecht. Um einem Rollstuhlfahrer ein Rendezvous mit einer Prostituierten zu verschaffen, braucht man deshalb schon ein Maßband. Der Körper, dessen teilweises Aussetzen den Behinderten zum Behinderten macht, blockiert störrisch den Weg dorthin, wohin ihn sein Verlangen treibt. Zu den logistischen gesellen sich bald juristische Probleme, die ohnehin mühsame Erotik droht vollends zur Farce zu werden.

Sinapis entwaffnender Blick beschränkt sich jedoch nicht auf das Verhältnis zwischen den Heimbewohnern und dem Pflegepersonal. Auch die vermeintlich Gesunden stolpern bisweilen über ihre Behinderungen. Wenn man eine Katze hat, sollte man sich keinen Allergiker ins Bett holen. Sonst wird der Körper, um dessen Nähe man den ganzen Abend gebuhlt hat, im entscheidenden Moment zum Hindernis.

Der Film verdankt seine Originalität dem erzählerischen Witz ebenso wie seinem handwerklichen Konzept. Uneasy Rider entstand im Rahmen der Arte-Reihe Digitale Blicke, für die Initiator und Produzent Jacques Fansten verschiedene Regisseure aufforderte, mit geringem Budget einen Spielfilm mit Digitalkamera zu drehen. Die bewegliche Handkamera kommt der Darstellung der prekären Situation zwischen Pfleger und Patient zugute. Vor ihr agieren die Schauspieler wie Ertappte "auf frischer Tat". Die Gleichzeitigkeit einer gewissen Frische und eines Anflugs von Scham gibt dem Spiel etwas Rohes und Unmittelbares. Dies kommt jedoch nicht als Dilettantismus auf der Leinwand an, sondern macht die Spannung aus Intimität und professioneller Distanz sichtbar, die das Verhältnis Patient-Pfleger ebenso auszeichnet, wie das zwischen Schauspieler und Kamera.

Der Kontrast von beweglicher Kamera und den in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkten Protagonisten gibt den Bildern zudem etwas Klandestines, Verstohlenes. Die Kamera - und damit der Blick des Zuschauers - bewegt sich mit provozierender Behändigkeit im behindertengerechten Interieur und wechselt mitunter spielerisch die Perspektiven: Mal sitzt sie auf einem Rollstuhl, mal scheint sie unter der Decke zu hängen, mal filmt sie wie aus einem Versteck. Vor diesem Blick könnten die, wie man sagt, "an den Rollstuhl Gefesselten" wie die Opfer einer komödiantischen Geiselnahme wirken. Der Film lässt jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er die Intimität in ungebrochener Solidarität mit seinen Protagonisten inszeniert.

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