Jenseits von Hollywood

World Cinema Was Apichatpong Weerasethakul mit Ousmane Sembène zu tun haben könnte. Zur Gegenwart des historischen Dritten Kinos
Ausgabe 35/2013
Jenseits von Hollywood

Foto: Bic Leu and findingnollywood.com

Vor vier Jahren erinnerte eine Retrospektive im Berliner Zeughauskino an eine wichtige, aber kaum gewürdigte Entwicklung der Filmgeschichte: das sogenannte Dritte Kino. Das artikulierte sich seit der kubanischen Revolution programmatisch als anti-koloniales Kino und wurde entlang der sogenannten „trikontinentalen Solidaritätsstrukturen“ zu einem globalen Phänomen mit vielen Facetten. Auf Revolutionen aus dem Off, mit Filmen aus den sechziger und frühen siebziger Jahren, folgte ein Jahr später am gleichen Ort die Filmreihe Spuren eines Dritten Kinos, mit der die Kuratoren Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke und Cecilia Valenti untersuchten, ob und wie sich das Erbe des Dritten Kinos in die neueren Kinematografien Brasiliens, Chinas, der Philippinen, Nigerias und der nordafrikanischen Diaspora in Frankreich eingeschrieben hat.

„Das Dritte Kino ist nicht nur Geschichte, sondern auch Utopie, Idee eines Kinos, das fehlt“, heißt es nun in der Einleitung zur Aufsatzsammlung Spuren eines Dritten Kinos: Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema, mit der die Kuratoren die zwischen den beiden Filmprogrammen angesiedelten Fragen nach Tradition und Gegenwart eines politischen Kinos weiter diskutieren. Indem sie die Geschichtlichkeit des Dritten Kinos zwischen „längst vorbei“ und „kann noch werden“ ansiedeln, schießen sie den Ball, mit dem es zu spielen gilt, erst einmal weit weg, um ihn dann in einzelnen Werkzusammenhängen, in „der Textur partikularer Orte und Erfahrungen“, wieder aufzunehmen.

Texte von 14 Autoren und Autorinnen sind nach den national-kinematografischen Schwerpunkten der Filmreihe gruppiert (wobei man den Fokus „Frankreich/Algerien“ vergeblich sucht, obwohl er auf dem Buchrücken noch erwähnt wird, was einer von mehreren Patzern des Lektorats zu sein scheint). Den Fallstudien vorangestellt ist ein Kapitel zu „Produktion, Distribution, Archiv“, dessen zwei Beiträge zwar diesen Themenkomplex nicht abdecken können, das aber einen sinnvollen Einstieg bietet, weil es den Ort beschreibt, von dem aus hier geschrieben wird. Ein Ort fernab der Produktionsorte der Filme, um die es geht. Ein Ort aber auch, an dem sich Kapital und Infrastrukturen bündeln und an dem selbst das marginalisierte Kino eine kontinuierlichere Rezeptionsgeschichte hat als dort, wo es entsteht. Was die Archivsituation angeht, ist die globale Süd-Nord-Diskrepanz, die einmal die Forderung nach einem Dritten Kino ausgelöst hat, weiterhin eklatant. Einen senegalesischen Film wird man eher in einem Archiv in Berlin oder Berkeley finden als in Dakar oder Buenos Aires.

Alte Kriegserklärungen

Der Hinweis der Herausgeber auf das „Fehlen“ eines Dritten Kinos zielt auf den zweiten Schlüsselbegriff im Buchtitel, das „World Cinema“, zu dem hier etwa die Filme von Apichatpong Weerasethakul, José Padilha oder Brillante Mendoza gerechnet werden. Seine Ästhetik ist zwar durch Festivalbetrieb und (vor allem) europäische Förderpolitik internationalisiert, der emphatische „Internationalismus“ des historischen Dritten Kinos von Ousmane Sembène, Santiago Álvarez oder Lino Brocka geht ihm aber völlig ab. Ein Kontinuum zwischen Drittem Kino und World Cinema, das der Buchtitel suggeriert, ist also gerade das, was infrage steht. Kann und will man bei World Cinema überhaupt noch von einem politischen Projekt sprechen, das mehr wäre als eine irgendwie mit Dissidenz liebäugelnde „Autorenpolitik“ – ein Begriff, der im vorliegenden Band wiederholt Verwendung findet, aber eigentlich einer gründlichen Kritik unterzogen werden müsste.

Filmfestivals und „Co-Production-Markets“ sind zweifellos eine ganz andere Nummer als die „Third World Filmmakers’ Meetings“, die es bis Mitte der siebziger Jahre regelmäßig gab. Sie endeten ebenso regelmäßig mit Resolutionen, die sich wie Kriegserklärungen an die Filmindustrien der alten und neuen Kolonialmächte lasen. Jenseits solcher Zuspitzungen stoßen die Autoren allerdings sehr wohl auf die Spuren eines Dritten Kinos, die dann auch überraschend sein können. Etwa wenn sich im Gespräch mit Jan Künemund vom Berliner Filmverleih Salzgeber die Aussicht andeutet, dass ein weit gefasster Begriff von queerem Kino womöglich recht gut beschreibt, was ein Drittes Kino heute sein könnte: ein Kino, dem nichts von dem, was es zeigt, selbstverständlich, sondern bei dem „alles eine Frage“ ist.

Überraschend und erhellend auch die folgende Erkenntnis von Nikolaus Perneczky bei seiner umsichtigen Würdigung der Filme des Nigerianers Tunde Kelani, der eine gewisse Sonderrolle innerhalb beziehungsweise am Rande der boomenden straight-to-DVD-Produktionsmaschine einnimmt, die unter dem Namen Nollywood läuft: „In gewisser Weise hat Nollywood erreicht,“ schreibt Perneczky, „wovon afrikanische Filmemacher seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts träumen: Kino von Afrikanern für Afrikaner, wirtschaftlich und kulturell subsistent, auf eigenen Füßen stehend – nur dass Nollywood weder ein Kino im eigentlichen Wortsinn noch vollinhaltlich ‚unabhängig‘ ist.“ Hier zeigt sich die Stärke der Fallstudien, die dazu tendieren, ein konkretes Produktionsumfeld zunächst einmal von innen heraus zu begreifen und nicht von vorneherein als Beispiel für eine vorgelagerte These anzugehen.

Anderes Schreiben

Im Kapitel über Nollywood geht das Konzept Fallstudie aber auch deshalb am besten auf, weil hier Tunde Kelani in einem Interview selbst zu Wort kommt und so ein Dialog entsteht, der nicht ausschließlich über das entfernte Sichten der Filme vermittelt ist. Dieses Interview bleibt jedoch die einzige Autorenposition aus den besprochenen Filmländern. Weitere Selbstzeugnisse von Praktikern, die sich in ihrer Arbeit einen Weg suchen (oder auch nicht) zwischen Drittem Kino und World Cinema, wären interessant gewesen; oder – hierzulande noch seltener – Texte von Kritikern und Filmwissenschaftlern aus Manila oder Lagos. Wie es in der Einleitung richtig heißt, war das historische Dritte Kino eingebettet in eine soziale und diskursive Praxis, und zwar eine, die nicht zuletzt von denen unterhalten wurde, die auch die Filme machten. Wenn der vorliegende Band als „Reaktion auf die Wahrnehmung einer diskursiven Leerstelle“ konzipiert ist, wäre zu hoffen gewesen, dass sich zumindest in diesem „Schreiben über“ das Dritte Kino ein internationalistischer Anspruch eingelöst hätte. Wäre das „Autorenpolitik“?

Spuren eines Dritten Kinos. Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema Lukas Foerster , Nikolaus Perneczky , Fabian Tietke , Cecilia Valenti (Hg.) Transcript 2013, 282 S., 32,80 € Tobias Hering ist Publizist und Filmkurator; zuletzt kuratierte er Gespenster der Freiheit. Momente eines Dritten Kinos im Berliner Arsenal

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