Onkel Gottlieb

Der Onkel Gottlieb hatte im zweiten Weltkrieg als Soldat am sogenannten Russlandfeldzug teilgenommen und "vor Stalingrad gelegen", wie es hieß. Ihm ...

Der Onkel Gottlieb hatte im zweiten Weltkrieg als Soldat am sogenannten Russlandfeldzug teilgenommen und "vor Stalingrad gelegen", wie es hieß. Ihm fehlte eine Hand, und erst nach Jahren war mir klar geworden, dass zwischen dem rosa Stumpf, der dem Onkel Gottlieb aus dem Ärmel ragte, und der Tatsache, dass er "vor Stalingrad gelegen" hatte, ein direkter Zusammenhang bestand, nämlich der, dass ihm die Hand nicht etwa weggeschossen worden, sondern abgefroren war. Die fehlende Hand hinderte ihn jedoch nicht, bei jeder Gelegenheit eine Boxerpose einzunehmen und mit den Fäusten - eine davon imaginär - in die Luft zu boxen. Tatsächlich hatten alle Bewegungen des Gottlieb etwas Plötzliches und Ruckhaftes, so als sei er ständig darauf bedacht, einer Attacke zuvorzukommen oder sich durch einen Überraschungseffekt gegenüber einem imaginären Gegner einen Vorteil zu verschaffen. Wenn er jemanden begrüßte, hielt er ihm zuerst den rosa Stumpf hin, um dann mit einem gespielten Aha-Effekt und großem Hallo die andere, ihm verbliebene Hand hinter dem Rücken hervor zu zaubern. "Hep, Hep!", erinnere ich mich, hat er ständig gerufen, während er um einen herum tänzelte, dabei lächelte und zwinkerte und einen mit seinem Nahkampfkomplex ganz verrückt machte. Dass das Lächeln und Zwinkern möglicherweise nur ein Teil seiner Kampftaktik war, kam mir damals nicht in den Sinn. Ich war stolz, Gottliebs Liebling zu sein.

Er gab mir das Gefühl, sein einziger Vertrauter zu sein, sein Spion in einer Welt, zu der er nicht mehr gehörte und an der er sozusagen nur noch aus taktischen Gründen teilnahm.

Er schickte mich zum Zeitung holen und auf die Post und ließ sich von mir einmal in der Woche eine Stange Zigaretten holen. "Die Bild und die Lord", meinte meine Mutter, "machen den Gottlieb glücklich", und ich glaubte als Kind lange Zeit, dass die Bild und die Lord zu einem System magischer Zeichen gehörten, mit dem sich all diejenigen miteinander verständigten, die wie der Onkel Gottlieb "vor Stalingrad gelegen" hatten. Erst später kam mir der Gedanke, dass ich meine ganze Kindheit hindurch womöglich die dem Gottlieb am nächsten stehende Person war und dass er bei meinem Auszug aus dem Elternhaus schließlich vollkommen vereinsamt sein muss.

Man fand den Gottlieb eines Tages in seinem "Studierzimmer", von dem ich mir nicht vorstellen kann, was dort jemals studiert worden wäre, auf einem Stuhl an seinem Tisch sitzend, den Kopf auf der Tischplatte, sein Hirn auf seinem Hemdkragen. Auf dem Boden neben ihm lag ein Revolver, ein Armee-Revolver aus dem zweiten Weltkrieg, wahrscheinlich der, mit dem er vor Stalingrad gelegen hatte. In einer grotesk wirkenden Anstrengung hatte er sich offenbar seine gesunde Hand an die Stuhllehne gebunden, um mit dem rosa Stumpen den Revolver auszulösen. Ein Kunststück, das sich keiner so recht erklären konnte, weshalb der Tod des Onkel Gottlieb eine zeitlang als Mordfall galt, ohne dass allerdings jemals ernsthaft nach einem Mörder gefahndet worden wäre. "Die Schatten haben ihn umgebracht", habe ich meine Großmutter einmal sagen hören, und mein richtiger Onkel verstieg sich sogar zu der Theorie, dass die Hand, die dem Gottlieb vor Stalingrad abgefroren war, zurückgekommen sei und ihn "erlöst" habe. Mein Vater hat den Gottlieb später immer als einen Angeber bezeichnet und als Beleg dafür den "prahlerisch festgebundenen Arm" angeführt, der offensichtlich nur den Beweis dafür bieten sollte, dass es ihm tatsächlich gelungen war, sich mit seiner nicht mehr vorhandenen Hand das Leben zu nehmen.

Ich weiß nicht, ob es die Verdrängungsleistung des Gottlieb oder die der anderen war, jedenfalls wurde nie gesprochen über das, was der Gottlieb gesehen, noch weniger, was er getan hatte, und so blieb all das in ihm verschlossen, lebendig allerdings und nicht tot, und holte ihn dann eines Tages in seinem Studierzimmer ein.

Seine Wohnung lag über der unseren, im Dachgeschoss unseres Hauses, wo nach dem Wunsch meines Großvaters eigentlich mein Onkel Walter hatte einziehen sollen, der dann aber im Gegensatz zum Onkel Gottlieb gar nicht mehr aus dem Krieg zurückkam. Der Großvater hatte dem Gottlieb, soviel ich weiß, die Wohnung umsonst zur Verfügung gestellt, gleich nachdem er aus der Gefangenschaft zurück gekommen war, und so war der Onkel Gottlieb also schon da, lange bevor ich geboren wurde. Im Gegensatz zu mir hat meine Schwester den Onkel Gottlieb nie ausstehen können und eine zeitlang einen regelrechten Kleinkrieg gegen ihn geführt, indem sie ihn in seiner Wohnung eingeschlossen, ihm den Gashahn zugedreht, oder den Strom abgestellt hat. Möglicherweise war es der Onkel Gottlieb und unser Verhältnis zu ihm, was mich und meine Schwester unsere ganze Kindheit hindurch zu Rivalen, um nicht zu sagen zu Feinden gemacht hat, und es musste sich der Gottlieb erst das Leben nehmen, bevor meine Schwester und ich uns über ihn aussprechen und im Verlaufe dieser Gespräche unser Verhältnis reparieren konnten.

Meine Schwester ist ein Jahr jünger als ich, hat das Elternhaus jedoch vor mir schon verlassen, um erst zwei Jahre "herumzugaunern", wie es meine Mutter nannte, und dann auf die Schauspielschule zu gehen. Als ich dann selbst das Elternhaus verlassen hatte, um in einer anderen Stadt andere Menschen mit anderen Geschichten zu treffen, erzählte mir meine erste Freundin, dass sie in ihrer Kindheit jahrelang von einem Nachbarn misshandelt worden sei, den sie "Onkel Siegfried" zu nennen hatte. Sofort kam mir der Gedanke, dass "Onkel Siegfried" und "Onkel Gottlieb" nur zwei verschiedene Namen für ein und dasselbe Grauen waren, und dass meine Schwester möglicherweise jahrelang unter der gleichen Misshandlung zu leiden hatte wie diese Freundin. Ich erzählte der Freundin auch umgehend von dem Onkel Gottlieb, und sie forderte mich auf, meine Schwester mit dem Thema zu konfrontieren. "Frag sie", meinte sie, "du wirst sehen." Es war dieser schreckliche Verdacht, der mich schließlich dazu bewegte, meine Schwester anzurufen, die ich das ganze Jahr über, seit wir mit unseren Eltern ein stures Weihnachten verbracht hatten, nicht mehr gesprochen hatte, und ihr meinen Besuch anzukündigen. Als wir uns zwei Tage später in ihrer Küche gegenüber saßen, sagte mir meine Schwester dann, dass der Onkel Gottlieb sie nie sexuell belästigt habe, dass sie ihn aber instinktiv nicht habe ausstehen können. Erst kurz zuvor, so erzählte sie mir, habe sie sich wieder dieser instinktiven Ablehnung erinnert, als sie nämlich eine Ausstellung besucht habe, die die Verbrechen der sogenannten Wehrmacht aufs Grausamste und Kompromissloseste dokumentiert habe. Dort sei ihr der Gedanke gekommen - und ich sah ihr die Genugtuung an, ihn mir gegenüber auszusprechen - dass der einzige körperliche Kontakt, den der Onkel Gottlieb, der ja zeitlebens nie einen "Damenbesuch" empfangen hätte, mit dem "schwächeren Geschlecht", wie meine Schwester ausrief, gehabt hatte, die Vergewaltigungen waren, an denen er sich nach der Einschätzung meiner Schwester ohne jeden Zweifel auf dem Russlandfeldzug beteiligt hatte. Nachdem sie noch einmal "Onkel Gottlieb" geschrieen und dabei ihre Tasse auf dem Fußboden zertrümmert hatte, erstickte meiner Schwester die Stimme, und mir wurde klar, wie groß der Graben war, den der Onkel Gottlieb zwischen uns gerissen hatte, und dass es an mir war, mich auf ihre Seite dieses Grabens zu retten, nicht umgekehrt.

Nachdem der Gottlieb erst einige Jahre mit verschiedenen Kuren zugebracht hatte, unsinnige Rekonvaleszenzversuche, wie ich mir denke, an Orten im Spessart und im Schwarzwald, an denen ihm das wahre Ausmaß seiner persönlichen Katastrophe erst richtig bewusst geworden sein muss, und er sich für die Verdrängung, für das Tänzeln, Witzeln und Zwinkern als einzige Heilungsmethode entschieden hatte, begann er eine Ausbildung. Perverserweise war die nahezu fehlerfreie Beherrschung der russischen Sprache neben dem Töten die einzige Fertigkeit, auf die er im Alter von 29 verweisen konnte. Und so wurde der Onkel Gottlieb Übersetzer und Dolmetscher für das Russische. Einmal, kurz vor seinem Selbstmord, habe ich ihn aus Anlass der Auszeichnung eines russischen Dissidenten mit dem "Friedenspreis" unserer Stadt bei der Arbeit beobachten können, und ich war betroffen von dem offensichtlichen Grimm, mit dem dem Gottlieb das Russische akzent- und fehlerfrei aus dem Mund floss. Eine Sprache, die er in Gefangenschaft unter grausamen Strapazen, wie sich denken lässt, aus reiner Notwehr erlernt hatte, und deren Beherrschung ihm schließlich seinen Lebensunterhalt sicherte. Eine Russland-Reise hat der Onkel Gottlieb meines Wissens nie mehr unternommen, aber "der Russe" war in seinen Reden, vor allem wenn es um Politik ging, allgegenwärtig, und keiner wagte ihm da zu widersprechen, denn was den Russen anbetraf, galt der Gottlieb als Experte und Fachmann. Wahrscheinlich war es auch der Russe, war es das Russische, das er sich in seinem Studierzimmer ein für allemal aus dem Kopf schoss. Dabei war es ja nicht der Russe, sondern war es die Scham über die Schuld, oder einfach das dumpfe Unverständnis darüber, wie es zu all dem hatte kommen können, und warum sich so etwas Leben nannte, waren es die ungezählten Bilder, die keine Kur ihm aus dem Kopf hatte vertreiben können, die ihm nun den Hemdkragen herunter rannen, nachdem ihm das Kunststück gelungen war, sich mit einer Hand, die er nicht mehr hatte, das Leben zu nehmen.

Tobias Hering, geboren 1971, lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.


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