Vorspiel Vergangenheit

Zeitschleife Was ein Güstrower Publikum zu sagen hatte, als einmal das Kino zu Gast war

Alexander war DDR-Grenzsoldat. Immer hinüber zu schauen ans andere, das verbotene Ufer, das hat er irgendwann nicht mehr ausgehalten. Er ist in die Elbe gesprungen, um in den Westen zu schwimmen. Angekommen ist er dort nie. Am nächsten Morgen wurde seine Leiche angeschwemmt, am östlichen Ufer. "Tot oder im Westen: er hat uns verlassen", sagt seine Mutter 14 Jahre später. Wie könnte man treffender die Demarkationslinie beschreiben, die die DDR in die Biographien ihrer Bürger geschnitten hat? Es mag heute als Schrulligkeit durchgehen, dass West-Berlin auf den offiziellen Landkarten der DDR ein weißer Fleck war. Aber auf eine kalte und fratzenhafte Art symbolisiert dieser Fleck die Verdrängungsarbeit, die der Staat seinen Bürgern abverlangte. Was 1989 geschah, wäre dann als eine kollektive Arbeitsverweigerung zu verstehen. Sie haben einfach gekündigt, denke ich mir.

"Wer nicht dabei war, der kann das nicht verstehen", sagt Stefan. Er hatte Wachdienst in der Nacht, als Alexander fliehen wollte. Er glaubte, ihn vor seiner Flucht bewahren zu müssen, schwamm ihm hinterher und zerrte so lange an dem Freund, bis er ihn an seiner Erkennungsmarke erdrosselt hatte. Wie Alexanders Mutter lebt er noch 14 Jahre später mit der offiziellen Version des Vorfalls, nach der Alexander "in Erfüllung seiner soldatischen Pflichten" eine Art Heldentod gestorben sei.

"Das Prinzip der DDR war ja, dass man die Menschen notfalls zu ihrem Glück zwingen musste", sagt der Filmemacher Karsten Laske. Für seinen Spielfilm Hundsköpfe hat er Stefan, Alexander und die Mutter erfunden und ihre Geschichte erzählt. Auch er hat seine 18 Monate Wehrpflicht in der NVA abgeleistet. An der Grenze stand er allerdings nicht. "Ich war Mucker, Erdsoldat." Auf dem Filmfestival in Schwerin bekam Karsten Laske im vergangenen Jahr für Hundsköpfe den sogenannten Findlingspreis. Geld gab es dafür nicht, aber der Interessenverband Film organisiert dem Gewinner-Film eine Mecklenburg-Vorpommern-Tournee - zu Spielstätten, an denen normalerweise die landläufigen Blockbuster zu sehen sind, oder die gänzlich anderen Nutzungen zugedacht sind.

Deshalb sitzt Karsten Laske nun mit Jens-Hagen Schwadt am Güstrower Marktplatz vor der Gaststätte Zur Post. Im Audimax der Fachschule für Verwaltung und Rechtspflege wird heute Hundsköpfe gezeigt. Jens-Hagen Schwadt sieht auf die Uhr: "Ihr habt noch Zeit für ein Bier." Er organisiert die "Findlings-Tournee", und nicht nur diese. Auch andere Filme, die es ohne fremde Hilfe nicht aufs Land schaffen, versucht der Interessenverband mit dem sonoren Versprechen "der besondere Film" unters Volk zu bringen. Um an den Verleihkosten zu sparen, fungiert der Verband als ein Tournee-Kino, das seine Leinwände über ganz Mecklenburg verteilt hat. So kommt das Kino zu den Zuschauern, ganz wie in Eisensteins Reportagen aus dem postrevolutionären Mexiko, wo Filmvorführungen in entlegenen Bergdörfern zum pädagogischen Aufbauprogramm gehörten.

"Das ist die Realität, da seht ihr das auch mal", meint Schwadt, als wir die Spielstätten der nächsten Tage durchgehen: Aula, Kneipe, Stadtkulturhaus. Wer sich in der Provinz um Kultur bemüht, erinnert wohl irgendwann zwangsläufig an einen Missionar, der seine besten Jahre im Busch verbracht hat. Zu lange schon war er Zeuge heidnischer Rituale, als dass er noch glauben könnte, es gäbe ein richtiges Leben im falschen. Schwadt fährt einen alten Kübelwagen aus NVA-Beständen. Der Blinker geht nur links, dafür im Dauerbetrieb. Auf der Pritsche sind eine Verstärkeranlage und ein Trichterlautsprecher montiert. "Frontfilm" steht auf dem Fahrzeug gespritzt und darunter als Markenzeichen ein Auge mit einem Kreuz darin, dicker als ein Fadenkreuz, eher ein Balken, den man jemandem zu ziehen gedenkt.

Als wir auf den Parkplatz der Fachschule einfahren, wirkt das kämpferische Pathos des Gefährts schon etwas übertrieben. Neuwertige Mittelklassewagen reihen sich vor dem Audimax, die Studenten sind mit Fahrrädern gekommen, wo sie nicht ohnehin auf dem Gelände wohnen. Drinnen wirkt das ansteigende Auditorium mit den 40 Besuchern spärlich besetzt. Schwadt ist aber zufrieden. Nicht schlecht für Güstrow. "Der Regisseur des Films wird uns nachher noch für Fragen zur Verfügung stehen." Die Zuschauer sitzen an Klapptischchen zum Notizenmachen, und der Film wird dort erscheinen, wo sonst die Tafel ist. Man könnte meinen, die Veranstaltung sei Teil eines Lehrplans.

"Hast du das Gefühl, dass dein Film auf diese Weise zu dem Publikum kommt, für das er gemacht ist?", frage ich Karsten später. "In gewisser Weise schon", sagt er. Er habe aber auch das Gefühl, mit Hundsköpfe in eine Zeitschleife geraten zu sein, weil er nun wieder über die Fragen rede, die er sich schon vor vier Jahren gestellt habe. Wenn die Leute dann aber doch über den Film sprechen wollen, weil es für sie das erste Mal ist, dann merkt er, dass es ihm wichtig ist. "Man ist mit seinem Thema verheiratet", meint er. "Wer einmal einen Film über rote Schaukeln gemacht hat, der wird sein Leben lang überall rote Schaukeln sehen." Aber im Ernst: "Die Thematik von Hundsköpfe ist ja noch genauso unbearbeitet wie damals."

Als das Licht wieder angeht im Audimax der Fachschule, hat der Film alle Anwesenden zu Experten gemacht. Sie sind Zeitzeugen, das geht sie an. Ohne die bei Filmgesprächen übliche Wortklauberei, mit der sich jeder Redner erst einmal vorsichtig in Stellung bringt, geht es hier gleich zur Sache. Es wird die genaue Beobachtung gelobt, die Realitätsnähe des Films und die Tatsache, dass er den Konflikt nicht in die Retrospektive setzt, sondern ihn in der Gegenwart verortet, 14 Jahre später, wenn erst recht keiner mehr drüber reden will. Auch das Publikum in Güstrow sieht sich mit seinen Konflikten eher in der Gegenwart als in der Vergangenheit. Die hier sitzen und diskutieren werden für den Staatsdienst ausgebildet, als Polizisten und Verwaltungsbeamte. Da hat man zwar Verständnis für Befehlsgehorsam. Aber wer will schon so sehr beamtet sein, dass er im Gewissensfall nicht mehr Mensch sein darf? "Im Osten setzen die Zuschauer eher ihre eigenen Erfahrungen gegen die Realität des Films", hat Karsten Laske festgestellt, während Westler eher geneigt seien, den Film als ein lehrsames Beispiel zu sehen.

Es wird darüber spekuliert, wie wohl eine Diskussion in den "alten Bundesländern" ausfallen würde. Ein junger Student ist skeptisch, ob sich die Westler überhaupt für ostdeutsche Geschichten interessieren. Von gelegentlichen Reisen nach Westdeutschland hat er die Überzeugung mitgebracht, dass man dort Vorurteile gegenüber dem Osten hätte, und er zieht daraus den zynischen Schluss, dass Ost und West wohl erst zusammenwachsen können, wenn die Wessis mit ihren Klischees ausgestorben seien. Hinter dem Argwohn gegenüber dem Unverständnis der anderen steht offenbar die Angst vor ihren Klischees. Und dahinter natürlich die Angst, man könnte einem solchen Klischee entsprechen. "Es fängt ja bei uns an, was wir glauben, wie die uns sehen", meint dagegen ein anderer. Man könne nicht erwarten, dass Vorurteile verschwinden, wenn man ihnen nichts entgegensetzt.

Viele identifizieren sich mit der Figur des Stefan. Sein Konflikt ist der komplexeste. Er verbirgt seine Schuldgefühle hinter einer Fassade aus Souveränität und Machismo. Um sich unbequeme Fragen vom Leib zu halten, spielt er den Ankläger. Der Angeklagte ist Christoph, der in der besagten Nacht eigentlich Wachschicht hatte. Aber Christoph hat Seife gefressen, bis er kotzen konnte, und sich krank gemeldet, um nicht in die Zwickmühle zwischen Freundschaft und Schießbefehl zu kommen. Stefan musste seine Schicht übernehmen, ahnungslos. Im Grunde ist Christoph ein Überläufer, jemand, der nicht da ist, wenn man ihn braucht. Und für jemanden wie Stefan ist Christoph längst ein Wessi. Er hat das gute Ende der Geschichte erwischt, denn er lebt mit Silvia zusammen, der Ex-Freundin von Alexander, und ist mit ihr und einem gemeinsamen Sohn im bürgerlichen Leben angekommen. Eine Zuschauerin schlägt vor, das Verhältnis von Westlern und Ostlern wie die Beziehung zwischen Silvia und Christoph zu sehen. Silvia ist die einzige, die nicht weiß, was in der besagten Nacht passiert ist. Sie geht in die Gauck-Behörde und sieht ihre Stasi-Akte ein. Zwischen all den geschwärzten Stelle stößt sie auf Alexanders Abschiedsbrief, den sie nie bekommen hat. Und als Christoph sie fragt, warum sie die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen könne, sagt Silvia: "Ich will nicht, dass unser Leben auf einer Lüge aufbaut." Einem Publikum wie dem in Güstrow muss man das nicht zweimal sagen.

Eine Lehrerin findet dennoch, dass sich der Film zu vieler Klischees bediene. Es fehlt ihr der Tiefgang, manches sei missverständlich. "Wir verstehen das ja", sagt sie und meint damit alle, die wie sie die DDR noch als Erwachsene erlebt haben. "Aber die jungen Leute, verstehen die das auch?" Einer von denen dreht sich zu ihr um und sein Blick besagt: "Wenn ich es nicht verstehe, dann erklär es mir doch." Die Grenze zwischen denen, die angeblich nichts verstehen, und denen, die dabei waren, verläuft eben nicht mehr nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen den Generationen. Und die Klage über das mangelnde Verständnis der anderen läuft Gefahr zu einer Schutzbehauptung zu werden, mit der sich die Zeitzeugen ihre Wahrheit konservieren.

Als der Saal sich leert, tritt ein Lehrer an Karsten heran. Sein Anliegen ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Auch im Film gibt es einen Lehrer. Der Vater des toten Alexander war Schulleiter und wurde von der Stasi vor die Wahl gestellt, entweder die offizielle Version vom Tod seines Sohnes zu schlucken oder in den niederen Dienst versetzt zu werden. Er hat sich fürs Schweigen entschieden, und für den höheren Dienst. "Dazu hätte man mehr erklären müssen", meint der Lehrer in Güstrow. Aber das wollte er vor den jungen Leuten nicht sagen. "Warum denn nicht?" fragt ihn Karsten. "Weil die das doch nicht verstehen", meint der Lehrer. Solange es bequemer ist, sich mit den Vorurteilen der anderen abzufinden, als ihre Fragen zu beantworten, wird sich daran wohl auch nichts ändern.

Draußen auf dem Parkplatz wartet Jens-Hagen Schwadt mit der Filmkopie zum Weitertransport nach Ribnitz-Damgarten. Er ist verstimmt. Eine Studentin hatte während der Diskussion eine dumme Frage gestellt, weil sie den toten Alexander mit dem lebenden Christoph verwechselt hatte. Es wurde gefeixt. Ihm war es peinlich. "Dabei ist die sonst die beste", ärgert sich Schwadt über die Frau, und man bekommt eine Ahnung davon, dass nicht nur der Kulturschaffende sein Kreuz zu tragen hat, sondern dass es auch nicht leicht ist, Publikum zu sein bei einem "besonderen Film".

Informationen zum Film unter: www.hundskoepfe.de


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