Bloggen war erst der Anfang. Social Software, soziale Dienste und Anwendungen, verändern das Internet gerade gewaltig und selbst eingefleischte Netznutzer verpassen den Anschluss. Dank Wikis, Vlogs, Podcasts und RSS-Feeds verschwimmt die Grenze zwischen denen, die Inhalte schaffen und denen, die sie konsumieren. Die User nennen das Web 2.0 und erhoffen sich ein sozialeres Internet, eines an dem jeder mitstricken kann. Von "Bürgerbeteiligung" ist da die Rede, von "Graswurzel-Journalismus" und der Macht "kollektiver Intelligenzen". Kritiker fühlen sich bei derlei Schlagworten erinnert an die enthusiastische Stimmung zur Gründerzeit des Mediums, Anfang der neunziger Jahre - und wie damals, so suchen auch heute findige Geschäftsleute nach Wegen, den neuen Trend zu Geld zu machen. Web 2.0, was ist das eigentlich? Eine soziale Revolution, ein neuer Internet-Hype, oder schlicht die Rückkehr der Start-Ups und Dotcoms?
"Web 2.0 ist der Versuch, ganz verschiedenen Strömungen im Internet einen Begriff zu geben", sagt Florian Rötzer, Redakteur beim Online-Magazin Telepolis. Dale Doughtery vom Computer-Verlag O´Reilly Media und Craig Cline vom Fachmesse-Veranstalter MediaLive haben den Begriff im Frühjahr 2004 erdacht. Seitdem verbreitet er sich geradezu inflationär. Weblogs, Wikipedia, die Foto-Community Flickr, neue Technologien, wie Podcasts und RSS-Feeds und Kontakt-Börsen für Geschäftsbeziehungen, etwa LinkedID und OpenBC - all das ist Web 2.0. All das und noch viel mehr, sagen die, die an die neuerliche "Humanisierung" des Netzes und die Macht des gebloggten Wortes glauben. Eine Macht für die immer wieder die gleichen Exempel herhalten müssen. Fälle, wie der des libysches Bloggers Abd al-Raziq al-Mansuri zum Beispiel. Der hatte auf der arabischen Seite www.akhbar-libya.com regierungskritische Artikel und Kommentare veröffentlicht, war daraufhin unter einem Vorwand verhaftet und im November 2005 zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. "So was gab´s früher auch schon, oder?", sagt Florian Rötzer. "Damals hießen solche Leute halt Journalisten und ihre Websites Websites." "Kurz: Da wird viel Neues propagiert, wo wenig Neues ist".
"Der Begriff Web 2.0 soll einen qualitativen Sprung suggerieren", sagt Rötzer. Die Bezeichnung "2.0" stammt aus der Software-Entwicklung. Kleinere Entwicklungsstufen von Computerprogrammen werden in Zehntelschritten angegeben - der Schritt von Version 1.0 auf 1.1 etwa beinhaltet beispielsweise ein paar Fehlerkorrekturen. Ein Sprung auf die nächsthöhere Zahl vor dem Komma dagegen kennzeichnet eine grundlegend überarbeitete Version. Aber ist Web 2.0 - trotz neuer Technologien und Anwendungen, wie den RSS-Nachrichten oder dem Podcast, dem Radio zum Herunterladen also - ist Web 2.0 eine solche grundlegende Überarbeitung des World Wide Web?
Peter Praschl ist da skeptisch. Der Österreicher ist Blogger der ersten Stunde. Schon seit Oktober 2001 betreibt er mit befreundeten Journalisten das Weblog Sofa. Rites de Passage (http://arrog.antville.org). Beinah täglich veröffentlichen Praschl und Kollegen kurze, oft tagebuchartige Kommentare zum Zeitgeschehen, zu Trends im Netz und in der "Welt da draußen", dazwischen Geschichten und literarische Notizen. Ein echtes Privileg sei es, so früh angefangen zu haben, sagt Praschl: "Man war noch nicht so umzingelt von all diesen Weltbeherrschungs-, Geld- und Machtfantasien." Web 2.0? Das sei doch vor allem Geschäftemacherei. Und wie macht man das, Geschäfte mit frei verfügbarer Open-Source-Software und kostenlosem Webspace?
Abgesehen von ein paar wenigen Bloggern, die sich einen Namen machen konnten in der Blogosphäre und jetzt für etablierte Medien schreiben, sind es vor allem die Unternehmen, die vom neuerlichen Hype profitieren könnten. Jedenfalls gibt man sich da zuversichtlich. "Wir werden neue, clevere Wege finden, um Geld aus diesen Seiten herauszuholen", sagte etwa Yahoo-Chef Terry Semel Ende 2005 auf der zweiten Web-2.0-Konferenz in San Francisco. Kurz zuvor hatte das Unternehmen die Web-2.0-Foto-Community Flickr gekauft. Verwendungszweck bislang unklar.
Doch immerhin, während Semel und die Kollegen von Google, Microsoft und Sun noch darüber grübeln, wie man aus kostenlosen und möglichst werbefreien Angeboten Profit schlägt, entsteht - fast unbemerkt - eine neue Generation von Start-Ups. Start-Ups die, wie der Berliner Spreeblick-Verlag, fast ausschließlich auf Web-2.0-Technologien wie Blogs und Podcasts setzen. Das hat zum einen pragmatische Gründe - zum anderen hat es mit dem Image zu tun: Worte wie Weblog und Wikipedia führen, laut Financial Times Deutschland, derzeit die "Top Ten der Business-Begriffe" an. Und - das pragmatische Argument -: Unternehmen hoffen, ihre Kunden durch Blogs und kostenlose Linklisten besser kennen zu lernen, sie durch tägliche Nachrichten per RSS-Feed an sich binden zu können.
Bleiben diejenigen, die im Internet mit Waren handeln oder mit Internet-Händlern kooperieren. Auch wer auf den Kauf per Mausklick angewiesen ist, kommt angeblich nicht mehr um Blogs und RSS-Feeds herum. Weil Google, wie ein hauptberuflicher Suchmaschinen-Optimierer berichtet, derzeit Weblogs "liebe", rate er seinen Kunden mindestens einen Mitarbeiter abzustellen, der täglich irgendwas in ein Weblog klopft - Qualität und Inhalt zweitrangig; Hauptsache sei, der Text enthalte möglichst viele Links, die richtigen Key-Words und die Seite werde regelmäßig aktualisiert. Das nämlich führt dazu, dass sie bei der Google-Suche weit oben landet. Nur wer oben landet, wird geklickt - nur wer geklickt wird, verdient.
Blog-Texte, die für die Suchmaschine optimiert werden, RSS-News-Feeds die PR auf den Rechner bringen? Was bleibt da noch von der hehren Idee des "Graswurzel-Journalismus", von der Macht eines basisdemokratischen Web 2.0 und der Generation C ("C", wie Content, zu deutsch: "Inhalt")? Blogger Peter Praschl sieht´s gelassen: Durch Weblogs lerne man vor allem wie "wahnsinnig einzigartig" User seien. Und für die Unternehmen werde das früher oder später zum Problem: Was tun mit lauter Individuen? Jeden einzeln ansprechen? Außerdem sei der ganze Web-2.0-Hype ohnehin bald wieder vorbei. "Vor zwei Jahren hat es schon einmal einen solchen Rummel um Blogs gegeben. Daran erinnert sich heute auch keiner mehr."
Glossar
Blog: Kurz für Weblog.
Blogger: Autor eines Weblogs.
Blogosphäre: Die Community der Blogger.
Podcast: Ton- oder Videodateien, die mittels eines RSS-Feeds auf ein tragbares Abspielgerät wie den "iPod" (Apple) geladen werden können. Podcasts werden in der Regel abonniert und haben die Form von Radioprogrammen oder Hörbüchern.
RSS-Feed: Abkürzung für Really Simple Syndication Feed. Technologie, die es dem Nutzer ermöglicht, die Inhalte einer Webseite oder Teile davon zu abonnieren.
Vlog: Kurz für "Videoblog". Weblog, das vor allem Filme enthält.
Weblog: Wortschöpfung aus "Web" (World Wide Web) und "Log(buch)". Ein Online-Journal oder -Tagebuch.
Wiki: Sammlung von verlinkten Webseiten, die von Besuchern gelesen und geändert werden können. Bekanntestes Beispiel: Wikipedia, eine "offene" Online-Enzyklopädie.
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